Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
Vom Netzwerk:
umliegenden Läden ab. Die Geschäftsleute hatten ihre Lokale sofort geschlossen, als ihnen die ersten Gerüchte von Unruhen und Krawallen zu Ohren gekommen waren; jetzt wurden die Schutzgitter vor Türen und Schaufenstern von einer etwa fünfzig Mann starken Diebesbande, die auf Plünderung aus war, mit Äxten bearbeitet. Auch dieses Unternehmen lockte Interessenten an, Jugendliche mit Baseballmützen auf den Köpfen, um ihre Gesichter vor dem in der Luft stehenden Hubschrauber zu verbergen, rannten in Rudeln zum Einkaufszentrum, um an sich zu raffen, was die Äxte schwingenden Einbrecher übrig ließen.
    Dass es nicht aus heiterem Himmel zu den Krawallen gekommen war, verriet am deutlichsten die überlegte Anordnung der Autos an den Zufahrten zur Siedlung. Hier hatte man nicht einfach ein paar herumstehende Fahrzeuge umgestoßen, um die Straße zu blockieren; nein, man hatte widerstandskräftige Bollwerke errichtet, absichtlich in Form von Keilen, deren Spitzen zur Hauptstraße gerichtet waren, um jeden Vorstoß der Polizei, jeden Versuch, die Barrikaden etwa mit Panzerwagen zu durchbrechen, zu vereiteln. In den angrenzenden Gärten auf beiden Straßenseiten wurden Feuer entzündet, hohe Scheiterhaufen aus Autoreifen und grünem Holz, die zuvor mit Benzin übergossen worden waren – ein weiterer Hinweis auf Vorplanung. Dicke schwarze Qualmwolken zogen von ihnen zu den Polizeieinheiten hinüber, die sich auf der anderen Seite der Straße zu sammeln begannen.
    Während in der Einsatzzentrale noch die Videobilder über den Schirm flimmerten, fragten sich die Beamten dort, wieso es keinerlei warnende Anzeichen dafür gegeben hatte, dass sich in der Acid Row eine Katastrophe dieses Ausmaßes zusammenbraute. Nach wie vor vermutete man, die Kunde, dass in der Siedlung ein Pädophiler einquartiert worden war, habe die Volksseele zum Kochen gebracht – was Berichte von Sozialarbeitern und Inspektoren des Wohnungsamts zu bestätigen schienen –, aber den Videoaufnahmen war nicht eindeutig zu entnehmen, ob die maskierten Jugendlichen auf den Barrikaden überhaupt mit den Geschehnissen in der Humbert Street zu tun hatten oder sich ganz einfach die Unruhen in der Siedlung zunutze machten, um ihren eigenen Krieg zu führen.
    Eine Beamtin fasste zusammen, was die meisten von ihnen dachten.
    »Wenn die Presse davon Wind bekommt, machen sie uns fertig.«
Glebe Tower, Bassindale
    Jimmy James und Mrs Hinkley musterten einander argwöhnisch, als die Aufzugtür sich öffnete. Keiner war vom anderen beeindruckt.
Sie
sah uralt aus.
Er
sah verschlagen aus.
Sie
hatte einen übellaunigen Mund mit tief herabgezogenen Winkeln.
Er
war ein Blender, mit Goldschmuck behangen.
Sie
war wie seine Tante – wenn sie nur ständig predigen konnte.
Er
war ein Strolch – der diesen Goldschmuck nie im Leben auf ehrliche Weise erworben hatte.
    Ihre Züge wurden weich, als sie den Blick zu der Polizeibeamtin senkte. »Können Sie sie da hineinheben?« Sie deutete auf den Rollstuhl, der vor ihr stand. »Unser Freund, der Notarzt, sagte, Sie sollen sie möglichst wenig bewegen... Wenn sie einen Schädelbruch hat, muss unbedingt vermieden werden, dass Knochensplitter ins Gehirn eindringen.«
    »Ja, ja, ich weiß schon«, versetzte Jimmy zähneknirschend.
    »Dann machen Sie mal schön langsam – und stützen Sie den Kopf... wie bei einem Baby.«
    Er verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Zu Befehl, Baas.«
    »Ich bin Mrs Hinkley.«
    Sie sah ihm direkt in die Augen, Herausforderung im kühlen Blick, und die Ähnlichkeit zu seiner Tante wurde noch größer. Aber sie war viel zu dünn – die Schwester seines Vaters war rund wie eine Tonne – und mit ihren strähnigen weißen Haaren, den abgetragenen Schuhen, der alten Strickjacke, die an den Manschetten ausgerissen war und an den Ellbogen gestopft, hatte sie etwas Ungepflegtes an sich, das seiner Tante fehlte und nach Armut und Nachlässigkeit roch.
    Er gab ein wenig nach. Immerhin erwies sie ihm eine Gefälligkeit, indem sie ihm half, und dafür, dass sie unterschiedlichen Generationen und Kulturen entstammten, konnte sie nun wirklich nichts. »Mr James – Jimmy für meine Freunde«, sagte er ohne Spott und bot ihr seine blutbefleckte Hand.
    Er hatte nicht erwartet, dass sie sie ergreifen würde – es hätte ihm nichts ausgemacht, wenn sie es nicht getan hätte –, aber zu seiner Überraschung fasste sie mit aufrichtiger Herzlichkeit zu und umschloss seine Hand mit ihren beiden. »Großartig.

Weitere Kostenlose Bücher