Der Nachbar
seinen glänzenden kastanienbraunen Pferdeschwanz aufgefressen hatte. Melanie stieß Colin von sich herunter und hob voll Entsetzen beide Hände zum eigenen Kopf.
»Keine Angst«, beruhigte Colin sie. »Es ist fast alles noch da.«
Ihre Zähne schlugen aufeinander. »Sie s-sollten K-Kevin nicht b-bewegen«, stieß sie hervor. »M-man muss den Rettungsdienst r-rufen. Ich hab das mal im F-fernsehen gesehen, d-da haben sie gesagt, d-dass man am Sch-schock sterben k-kann.«
»Wahrscheinlich wollen sie ihn zur Barrikade bringen«, erwiderte Colin unsicher. »Da sind Bullen, die können ihn ins Krankenhaus schaffen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum hat er d-das getan? Ich hab ihm doch g-gesagt, er soll's lassen. D-das hast du doch selbst gehört, Col, oder?«
»Ja, ja, aber wir müssen hier weg«, sagte Colin und zog sie hoch. »Hier ist die Hölle los. Die sind alle total verrückt geworden. Scheiße!« Er wehrte einen Körper ab, der wie ein Geschoss auf ihn zuraste, und ließ dabei, ohne dass er es merkte, Melanies Handy fallen. Es wurde unter stampfenden Füßen zertrampelt, während er seine Schwester zum Bürgersteig schleppte. »Gleich gibt's hier Krieg.«
Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, jammerte sie laut. »Was ist mit den Kindern?«
»Du sperrst dich jetzt mit den Kindern ein, und ich geh los und such Jimmy«, erklärte er entschieden.
»O Gott, er ist bestimmt irre wütend auf mich«, jammerte sie weiter. »Er hat gleich gesagt, dass so was passieren wird.«
»Ja, okay, aber wütend wird er erst, wenn du in Sicherheit bist«, sagte Colin. »Und das spielt dann überhaupt keine Rolle. Mensch, Melanie, jetzt reiß dich zusammen. Ich weiß ja, dass das hier nicht lustig ist, aber du musst an Rosie und Ben denken. Die armen kleinen Scheißer haben bestimmt eine Höllenangst.«
Er umfasste ihre beiden Arme, als könnte er ihr so etwas von seiner eigenen Unerschrockenheit einflößen. Aber sie sah ihn gar nicht an. Er beobachtete, wie sich ihre Augen voller Entsetzen weiteten, und als er den Kopf drehte, sah er Wesley Barber den nächsten brennenden Molotow-Cocktail gegen die Haustür des Pädophilen schleudern.
»Oh, Scheiße!«, rief er, den Tränen nahe. »Jetzt sind wir echt im Arsch.«
>Meldung an alle Polizeidienststellen
>28. 07. 01
>15 Uhr 43
>Bassindale
>GROSSALARM
>Kampfeinheiten in Bereitschaft
>Angriff auf Bassindale steht unmittelbar bevor
>Befehle werden erwartet
>AKTUALISIERUNG – CONSTABLE HANSON
>Situation stabil
>AKTUALISIERUNG – HUMBERT STREET
>Kontrollierter Abzug funktioniert
>Berichte von Massenpanik
>Möglicher Überfall auf Nummer 23
>AKTUALISIERUNG – DR. MORRISON
>Keine neuen Erkenntnisse
17
Im Haus Humbert Street 23
Auf dem Fußboden hockend hielt Nicholas seinen Vater auf seine Knie gebettet wie die Maria der
Pietà
von Michelangelo den Gekreuzigten. Der alte Mann lag regungslos da, das Gesicht an der Brust seines Sohnes. Auf kleinen Blutrinnsalen an seinem Hals begannen sich dünne Krusten zu bilden. Niemand sprach. In der ungewöhnlichen Stille dieses Hinterzimmers, das mit leeren Umzugskartons und ausrangierten Möbelstücken voll gestellt war – Erinnerungen an die Familiengeschichte der Zelowskis –, gewann Sophie den Eindruck, dass das Leben dieser Männer vom Schweigen beherrscht wurde und jedes Gespräch eine seltene Abwechslung war.
An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit hätte sie Nicholas vielleicht irrtümlich für einen Mönch gehalten. Dieses dünne, farblose Gesicht, das gegen jede Äußerung von Leidenschaft gefeit schien, hatte etwas sehr Asketisches, und sie fragte sich, ob er es sich angewöhnt hatte, keine Gefühle zu zeigen, oder ob es ihm überhaupt an Gefühlen fehlte. Nein, er verbirgt sie, dachte sie, als sie sich seiner entsetzten Reaktion auf ihren entschlossenen Angriff gegen seinen Vater erinnerte. Nacktes Gefühl machte ihm Angst.
Aber machte ihn das zum Verbündeten oder zum Feind? Sie dachte darüber nach, während sie dem fortwährenden Geschrei der Menge draußen lauschte. Würde er ihre Version der Ereignisse bestätigen oder die seines Vaters? In der Ferne konnte sie einen Hubschrauber hören, und ihr wurde etwas leichter bei dem Gedanken, dass ihre Rettung unmittelbar bevorstand. Spielte es eine Rolle, zu wem Nicholas hielt? Würde sie, wenn das hier alles vorbei war, überhaupt noch den Wunsch haben, Franek vor Gericht zu bringen? War ihr Hass auf ihn so stark? Saßen sie
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