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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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griff. Die Leute vor der Tür begannen gewaltsam zu drücken und zu stoßen und rissen sie mit sich ins Haus. Sie umklammerte verzweifelt den Türknauf, um sich hinter die Tür zu ziehen, dann stieß sie Lisa und das große Mädchen den Korridor zum Garten hinunter. »Schnell raus jetzt mit euch!«, rief sie. »Lauft nach Hause.«
    Die Mädchen wurden vom Strom davongetragen, und sie sah, wie Lisa sich im stolpernden Lauf nach ihr umdrehte. »Schau vorwärts!«, schrie sie ihr nach und presste sich dicht an die Wand. »Pass auf, dass du nicht hinfällst.« Aber das Kind war schon aus ihrem Blickfeld verschwunden.
    Gaynor konnte nichts tun, nur dastehen und zusehen. Sie fühlte sich misshandelt von den Schlägen wild fuchtelnder Hände, die im reißenden Wirbel stoßender Leiber verzweifelt Halt suchten, aber sie wusste, dass es ihr niemals gelingen würde, die Tür ohne Hilfe zu schließen, wenn es zu einer Katastrophe kommen sollte. Sie konnte die blind vorwärts stürzenden Menschen nicht aufhalten. Sie konnte den Ansturm nicht bremsen.
    Und sie war schuld. Sie hatte die Aktion angeregt – war auch noch stolz darauf gewesen, eine der Initiatorinnen zu sein. Unwillkürlich begann sie zu beten: »Lieber Gott, bitte lass niemanden umkommen.« Sie wiederholte das Gebet unablässig, ohne Pause, als wäre Gottes Aufmerksamkeit nur durch fortwährende Fürbitte herbeizubeschwören. Dabei wusste sie, dass er nicht zuhörte. Tief im Innern war sie besessen vom schrecklichen Schuldgefühl der sündigen Katholikin. Wenn sie ein besserer Mensch gewesen wäre, wenn sie auf die Priester gehört, ihre Sünden gebeichtet hätte, regelmäßig zur Kirche gegangen wäre...
Einsatzzentrale – Luftaufnahmen aus dem
Polizeihubschrauber
    Die Videoleitung aus der Luft zur sechzehn Kilometer entfernten Einsatzzentrale übermittelte erschreckende Bilder der Ereignisse unten am Boden. Brennpunkte des Geschehens waren die Humbert Street und ihre nächste Umgebung sowie die Barrikaden an den vier Zufahrten zur Siedlung. In und um die Humbert Street tobte eine Menge von schätzungsweise zwei- bis dreitausend Menschen, deren Ausläufer bis in die Bassindale Row und die Forest Road reichten, und die Barrikaden lockten, nachdem sich ihr Vorhandensein herumgesprochen hatte, Ströme von freiwilligen Besatzern an. Die Polizei war machtlos. Sie war von den Ereignissen überrascht worden und verfügte nicht über die nötigen Leute, um einzugreifen.
    Die Beobachter in der Einsatzzentrale starrten ungläubig auf die Luftaufnahmen der Humbert Street. Welch boshaftes Schicksal, das den Pädophilen ausgerechnet in eine Straße verschlagen hatte, wo eine kurzsichtige Baupolitik mit dem Ziel, mehr Wohnraum zu schaffen, dazu verleitet hatte, alle offenen Räume zwischen den Anwesen zuzumauern und die Straße so in eine Betonröhre zu verwandeln. Später würde es deswegen Streit und gegenseitige Beschuldigungen geben, die Polizei würde dem Gemeinderat vorwerfen, ihre Warnungen bezüglich der Zugangsmöglichkeiten zur Siedlung nicht ernst genommen zu haben, der Gemeinderat wiederum würde die Polizei bezichtigen, ihre Aufgabe nicht erfüllt zu haben. Im Augenblick jedoch konnte man nur untätig zusehen, wie die wütenden Massen, ohne sich der Gefahr, in der sie schwebten, bewusst zu sein, rücksichtslos in einen Bereich drängten, der viel zu klein war, um sie aufnehmen zu können.
    Die lodernde Feuerwand, die bei der Explosion von Kevin Charteris' Benzinbombe in die Höhe stieg, und die darauf folgende Massenpanik wurden von der Kamera in ihrer ganzen Dramatik eingefangen. Es war, als hätte ein riesiger Magnet plötzlich die Pole gewechselt; wie ein Haufen abgestoßener Eisenspäne stoben die Menschen auseinander, die eben noch in gebündelter Aktion alle demselben Punkt zugestrebt waren. Angst und Schrecken spiegelten sich in den gen Himmel gerichteten Gesichtern von Frauen und Kindern, die in der wogenden Menge eingequetscht oder gegen Hausmauern gedrückt wurden. Entsetzliche Bilder von Kindern, die stürzten und von fliehenden Füßen niedergetrampelt wurden. Die einzige Hoffnung auf ein Entkommen aus dem tödlichen Getümmel bot Mrs Carthews offene Haustür; vor ihr staute sich ein Strom kopflos fliehender Menschen, die sich zum kleinen Hintergarten durchdrängten und, die Zäune der Nachbargärten einreißend, die Forest Road zu erreichen suchten, wo sie sich Sicherheit erhofften.
    Wüste Szenen spielten sich vor dem Coop Supermarkt und den

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