Der Nachbar
Kimberley zu sehen, dann kehrte er in die Küche zurück. »Wie nennt Amy ihren Vater?«, fragte er Laura.
»Daddy.«
»Nicht ‘M’ für Martin?«
»Nein«, antwortete sie beinahe entsetzt. »Das hätte er nie erlaubt.«
Das hatte sich Tyler schon gedacht. »Sagt Ihnen ‘M’ etwas? Barry und Kimberley haben übereinstimmend ausgesagt, dass Amy von einer öffentlichen Zelle aus jemanden angerufen und ihn ‘M’ genannt hat. Sie hat ein R-Gespräch angemeldet, sie muss also die andere Person gut kennen. Mir fällt im Augenblick nur Em ein, als Abkürzung für Emma. Hatte sie vielleicht in Bournemouth oder Southampton eine Schulfreundin dieses Namens?«
Jegliche Farbe wich aus Lauras Gesicht. »Sie verschluckt beim Sprechen die D's«, flüsterte sie. »Sie hat Ed gesagt.«
18
Im Haus Humbert Street 23
Sophie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ihre Uhr war stehen geblieben, und wenn sie einen Blick auf sie warf, zeigte sie immer dieselbe Zeit an – jene Stunde und Minute, seitdem sie immer wieder auszurechnen versucht hatte, wie lange sie nun schon die Gefangene der beiden Männer war. Die Stille im Zimmer war so lähmend, dass sie das Gefühl hatte, schon seit Tagen hier zu sein. Das Knattern des Hubschrauberrotors kam und ging. Das Geschrei von der Straße schwoll an und verebbte. Angestrengt versuchte sie, irgendetwas aufzuschnappen, was einen Hinweis darauf geben würde, was draußen vor sich ging.
»Das war nicht die Polizei«, sagte sie schließlich. »Die hätten das Haus längst gestürmt.«
»Sie müssen erst die Straße freimachen«, entgegnete Nicholas.
Da hatte er Recht, sagte sie sich entschlossen. Solche Dinge brauchten Zeit. Wie viele Polizisten waren nötig, um einen öffentlichen Tumult niederzuschlagen?
Nicholas starrte wieder die Wand an. Nur ein kurzer Blick zur Tür ab und zu verriet eine Spur von Besorgnis. Franek schien zu schlafen.
Sie verstand Nicholas' ruhige Gefasstheit nicht. War Unterwerfung ihm so sehr zur eingefleischten Gewohnheit geworden, dass er alles, was geschah, fraglos hinnahm? Hatte er keine Phantasie? Oder war die ihre allzu lebhaft? Sie versuchte, die endlosen quälenden Überlegungen in Schach zu halten, die sie bestürmten, aber es war, als wollte man einen durchgegangenen Gaul einfangen. In der bedrückenden Stille dieses Zimmers gab es für sie keine Möglichkeit, ihren Ängsten zu entkommen.
Warum ließ die Polizei so lange auf sich warten, obwohl sie Jenny deutlich gesagt hatte, dass sie fürchtete, vergewaltigt zu werden? Spielte sich irgendwo, an einem anderen Ort, etwas noch Schlimmeres ab? Und wenn nun die Polizei nicht durchkam? Was würde dann geschehen? Wie lange würden sie in diesem gegenwärtigen Zustand verharren müssen? Was, wenn Männer aus der Menge an die Tür schlugen und behaupteten, Polizisten zu sein? Wie sollten Nicholas und Franek erkennen, ob das wahr war oder nicht? Wie sollte sie selbst es erkennen? Sollte sie sich durch Rufe bemerkbar machen? Oder sollte sie sich lieber still verhalten? Und wenn das Haus gestürmt wurde? Was wollten die Leute da draußen? Angst machen? Töten?
Sie musste reden, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte. »Arbeiten Sie?«, fragte sie Nicholas.
Nur widerstrebend schenkte er ihr seine Aufmerksamkeit. »Nicht mehr, nein.«
»Und als Sie noch gearbeitet haben, was haben Sie da gemacht?«
»Unterrichtet«, antwortete er kurz.
»Was für Fächer?«
»Musik.«
»Und warum haben Sie aufgehört?«
»Ich bin entlassen worden.«
Die Bemerkung signalisierte das Ende des Gesprächs, es sei denn, Sophie wäre bereit gewesen, ihn zu fragen, warum er entlassen worden war. Das war sie nicht. Sie wollte dieses Gebiet lieber unerforscht lassen. Sie hatte keine Ahnung, ob Fay etwas Konkretes von einem Pädophilen in der Humbert Street gewusst hatte, oder ob es sich nur um Klatsch gehandelt hatte, der ausgeufert war, aber sie musste annehmen, dass zwischen dem, was Melanie ihr erzählt hatte, und dem, was sich da draußen vor dem Haus abspielte, eine Verbindung bestand.
Sie erinnerte sich an Nicholas' Unbehagen, als sie ihn gefragt hatte, ob er in Portisfield Amy Biddulph gekannt hatte, und an Franeks Bemerkung, dass die Polizei ihm und seinem Sohn damit Ärger gemacht hatte, dass sie zu ihnen gekommen war, um sie über das verschwundene kleine Mädchen auszufragen. Der beängstigende Verdacht, dass die Leiche des Mädchens irgendwo im Haus versteckt war, wollte sich immer wieder aufdrängen, aber sie
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