Der Nachbar
»Gegen so was ist kein Kraut gewachsen. Die einen sind's – die anderen nicht. Ich bin auch einer – Mel ebenso... Wir lassen uns nicht gern sagen, wie wir unser Leben zu führen haben. Und wenn man so geboren ist, dann macht's überhaupt keinen Unterschied, ob man geliebt oder gehasst wird – man ist und bleibt ein Rebell. Aber wenn man geliebt wird, weiß man, dass es einen Ort gibt, wo man willkommen ist.«
Jimmy blieb überzeugt, es müsse einen Mittelweg geben – etwas zwischen unnachsichtiger Strenge und bedingungsloser Liebe –, aber die Lebensauffassung der Familie Patterson war verführerisch. Er hatte seit fünf Jahren nicht mehr mit seinem Vater und Tante Zuzi gesprochen. Nur mit seinen Brüdern hielt er losen Kontakt. Eine Zukunft ohne Melanie und ihre Großfamilie konnte er sich nicht vorstellen.
Darum suchte er jetzt voller Sorge nach ihr und ihren Kindern. Er schlug einen Bogen um das Einkaufsviertel, wo Plünderer die Geschäfte ausräumten, und lief die Glebe Raod hinunter bis zur Ecke Bassindale Row North. Beißender Brandgeruch hing in der Luft, und er vernahm fernes Geschrei, das aus der Humbert Street zu kommen schien. Trotzdem beschloss er, die Bassindale Row bis zur Hauptstraße hinaufzulaufen, um zu sehen, ob die Polizei schon daran war, die Barrikade zur durchbrechen.
Wenn man Eileen Hinkley glauben durfte, deren Freundin –»ein bisschen verdreht, wissen Sie... sie hat vor einem Jahr ihren Mann verloren und meint, jeder, der bei ihr klingelt, will sie ausrauben... ein bisschen wie der senile alte Knacker über mir, der jedes Mal seine Möbel durch die Wohnung feuert, wenn er sich einbildet, bei ihm wäre eingebrochen worden«– in ihrer Wohnung im neunten Stockwerk des Glebe Tower Gebäudes am Fenster stand und mit einem Feldstecher die Ereignisse beobachtete, wurde auf den Straßen von Bassindale soeben die letzte Schlacht ausgetragen –»das reinste Armageddon«, wie die Freundin gesagt hatte.
»Wissen Sie, sie glaubt fest dran, dass alle Sünder dieser Erde am Tag des Jüngsten Gerichts zur Rechenschaft gezogen werden«, erzählte Eileen. »Aber das kann erst nach der letzten entscheidenden Schlacht zwischen Gut und Böse stattfinden.« Mit einem amüsierten Lächeln tippte sie sich an die Stirn. »Sie ist natürlich komplett meschugge, und wenn man sie fragt, wie das funktionieren soll, kann sie einem keine Antwort geben. Sie erklärt mir immer wieder, dass sie erlöst werden wird, weil sie sich einen Platz unter den Gerechten erworben hat, und ich sag
ihr
immer wieder, dass sie im Wolkenkuckucksheim lebt. Es liegt doch in der Natur der Religion, dass wir alle verdammt sind – wir müssten sämtliche Götter verehren, um sicher sein zu können, dass wir einen Platz im Himmel bekommen –, aber das glaubt sie mir nicht.«
Jimmy lachte. »Also kann man genauso gut Atheist sein und sich ein schönes Leben machen?«
»So seh ich es jedenfalls«, bestätigte sie vergnügt. »Ganz gleich, was man tut, es ist immer verkehrt. Folglich kann man nur versuchen, das Beste daraus zu machen.«
Er hob zwei Finger zum Gruß. »Ich komm später vorbei.«
Plötzlich besorgt, legte sie ihre verkrüppelte Hand auf seinen Arm. »Seien Sie vorsichtig, Jimmy. Meine Freundin hat gesagt, sie wünschte, es wäre Nacht.«
»Wieso?«
»Weil die Polizei dabei ist, die Schlacht zu verlieren... und sie nichts davon wissen würde, wenn sie es nicht sehen könnte. Anscheinend kampieren die draußen auf der Hauptstraße und schaffen es nicht, in die Siedlung reinzukommen. Die Randalierer stecken alles in Brand, was ihnen in die Quere kommt. Sie hat Todesangst, dass wir alle umgebracht werden – und das trotz ihrer Überzeugung, dass sie zu den Seligen gehört, die in den Himmel kommen.«
»Haben Sie auch Angst?«, fragte er.
»Noch nicht«, antwortete sie trocken. »Denn im Moment weiß ich ja nur von ihr, was da draußen los ist – und sie übertreibt immer.«
Diesmal nicht, dachte Jimmy mit Schrecken beim Anblick der Verwüstungen, der sich ihm bot. Auf diesem Schlachtfeld fehlten wahrhaftig nur noch die vier Reiter der Apokalypse auf Feuer speienden Rossen, um die Phantasie endgültig zur grausamen Realität zu machen.
Umgestürzte Autos an der Mündung der Bassindale Row standen in lodernden Flammen, von denen der ölige schwarze Qualm schmelzender Gummireifen und Latexpolster im Inneren der Fahrzeuge in die Luft stieg und alles verdunkelte. Ausgelöst hatte den Brand ein Molotow-Cocktail,
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