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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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blutiger Schnitt, den die Vase hinterlassen hatte, aber seinen Augen, die jetzt wieder auf Sophie gerichtet waren, fehlte nichts.
    Nicholas gab eine scharfe Erwiderung auf Polnisch.
    Franek schoss zurück, umfasste dann den Arm seines Sohnes so fest, dass die Handknöchel spitz hervorstanden. »Wir tun das, was ich sage. Wir warten hier, wo wir sicher sind.«
    Weiteren Widerspruch gab es nicht. Zu groß war die Macht des alten Mannes über seinen Sohn. Nicholas ließ sich wieder neben ihm niedersinken und rieb sich kräftig den Arm, als Franek diesen losließ.
    »Uns wird schon nichts passieren«, beschwichtigte er Sophie. »Wir sind hier in England. Die Polizei wird bald hier sein.«
Glebe Road, Bassindale
    Als Tante Zuzi den vierzehnjährigen Jimmy nach seiner ersten polizeilichen Verwarnung wegen Ladendiebstahls gefragt hatte, wer der wichtigste Mensch in seinem Leben sei, hatte er geantwortet: »Ich.« Worauf sie beißend erwidert hatte: »Das ist typisch für dich – dir einen Vollidioten zum Vorbild zu nehmen.«
    Er hatte sie in jeder Hinsicht enttäuscht – durchschnittlich in der Schule; ging lieber mit weißen als mit schwarzen Mädchen aus; machte der Familie mit seinen Zusammenstößen mit der Polizei nichts als Schande; lehnte es ab zur Kirche zu gehen. Aber es kam ihr nie in den Sinn, dass sie an seinem Verhalten mit Schuld sein könnte. Sie hatte den Platz seiner Mutter in der Familie eingenommen und ihren drei Neffen vom ersten Tag an nichts als Geringschätzung entgegengebracht. Die Jungen konnten tun, was sie wollten, sie konnten es ihr nicht recht machen.
    Jimmys jüngere Brüder waren still und fügsam geworden in dem Bemühen, Tante Zuzis Ansichten darüber zu entsprechen, wie Männer zu sein hatten – arbeitsame, gottesfürchtige Jasager, die alle Autorität an die Frauen abgaben, die ihnen den Haushalt führten. Es war eine typisch
schwarze
Haltung. Und Jimmys Vater hatte sie übernommen. Froh, die Verantwortung für seine Kinder los zu sein, hatte er seiner Schwester jeden Freitag brav seinen Lohnumschlag übergeben und war dann mit dem Geld, das er vorher hatte entwenden können, ohne dass sie es bemerkte, für das Wochenende verschwunden. Sie pflegte ihn mit bissigen Worten zu beschimpfen, wenn er endlich, nach Frauen und Alkohol riechend, nach Hause kam, und bestärkte ihn damit nur in seiner Überzeugung, dass es das Beste für ihn sei, so wenig Zeit wie möglich in ihrer und der Kinder Nähe zu verbringen.
    Es war ein Teufelskreis, aus dem keiner von ihnen ausbrechen konnte. Tante Zuzi war verbittert darüber, dass sie unverheiratet geblieben war, woran sie den Männern die Schuld gab – entweder direkt, weil keiner je Interesse bekundet hatte, sie zu heiraten, oder indirekt, weil ihr Bruder und ihre Neffen sie daran hinderten, ihr eigenes Leben zu leben. Jimmys Vater ertrug ihre Anwesenheit im Haus nur mit Widerwillen, aber er wusste, dass er auf sie angewiesen war, wenn er seine Kinder versorgt wissen wollte. Es hatte keinem in der Familie gut getan, vor allem Jimmy nicht, der alt genug war, um sich seiner Mutter zu erinnern, und den sein trotziger Widerstand gegen die gnadenlose Geringschätzung der Frau, die ihren Platz an sich gerissen hatte, unweigerlich ins Gefängnis brachte. Genau wie Tante Zuzi prophezeit hatte, natürlich.
    Wie anders ging es da in Melanies Familie zu, wo Kinder bedingungslos geliebt und alle Dummheiten und Vergehen mit einem »er/sie hat's doch nicht bös gemeint« entschuldigt wurden. Jimmy hatte Melanie und Gaynor oft vorgehalten, dass diese Art alles verzeihender Liebe genau so von Übel sei wie ein Mangel an Liebe. »Schaut euch doch Colin an«, pflegte er zu sagen. »Er ist genauso schlimm, wie ich in seinem Alter war. Aber ich hab dafür eine Tracht Prügel gekriegt, und Tante Zuzi wär's nicht im Traum eingefallen, bei den Bullen ein gutes Wort für mich einzulegen; ihr dagegen rennt sofort los und beschimpft die Bullen dafür, dass sie ihn kassiert haben. Was vermittelt ihr ihm denn damit – dass es ganz in Ordnung ist, Dummheiten zu machen?«
    »Aber die Prügel haben dich doch vom Stehlen nicht abgehalten, Schatz, oder?«, entgegnete Melanie dann. »Sie haben alles nur schlimmer gemacht. Wieso findest du, dass Mum unsern Colin verhauen sollte? Du musst doch einsehen, dass es besser ist abzuwarten, bis er das von selbst ablegt – und ihn dabei wissen zu lassen, dass seine Mum immer für ihn da ist.«
    »Col ist ein Rebell«, erklärte Gaynor.

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