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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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wehrte ihn ab, um nicht vollends in Panik zu geraten. Zweifellos hatte die Polizei nach der Kleinen gesucht und hätte die beiden Männer nicht unbeobachtet gelassen, wenn der Verdacht bestand, dass einer von ihnen oder beide etwas mit dem Verschwinden des Kindes zu tun hatten.
    Aber welcher von ihnen war befragt worden? Diese Frage ließ sich nicht so leicht ignorieren. Sie hätte sich gewünscht, dass es Franek gewesen war, ihre Logik sagte ihr, dass es Nicholas gewesen sein musste, und es lag ihr nichts daran, sich das von ihm bestätigen zu lassen. Das würde die Situation nur verschlimmern – waren Geheimnisse erst einmal heraus, so ging die Scham über sie verloren –, und sie wollte Nicholas lieber als – wenn auch noch so unvollkommenen – Verbündeten behalten, anstatt ihn zu dem Geständnis zu zwingen, dass er so schlimm war wie sein Vater.
    Wieder trat tiefe Stille ein. Wieder konzentrierte sie sich auf die Geräusche von draußen. Die Richtung hatte sich geändert. Ein Teil des Lärms schien aus den Gärten heraufzuschallen. »Jetzt sind hinten auch Leute und machen Krawall«, rief sie voll Furcht.
    Auch Nicholas hatte es gehört. Er blickte nervös zum Fenster.
    »Sie haben gesagt, sie könnten nicht hinters Haus gelangen, den Zaun niederzureißen«, hielt sie ihm anklagend vor.
    »Ich nehme an, genau das haben sie getan.«
    Wütend darüber, dass er nicht verstehen wollte, was das bedeutete, fuhr sie ihn an: »Wo ist dann die Polizei? Sie sagen dauernd, sie ist da draußen – aber wo denn bitte? Die würden nie zulassen, dass die Leute die Gärten überrennen. In solchen Situationen geht es doch darum, die Menge in den Griff zu bekommen und durch Straßensperren und sichere Abzugswege ihre Auflösung zu steuern. Ich habe Kurse darüber mitgemacht – als Teil meiner Ausbildung in richtigem Verhalten bei plötzlich auftretenden kritischen Situationen im Krankenhaus.«
    »Was spielt das schon für eine Rolle?«, sagte er ruhig. »Wir können sowieso nichts tun als warten.«
    Sie starrte ihn ungläubig an. »Und damit ist die Angelegenheit für Sie erledigt? Wir stecken den Kopf in den Sand und hoffen, dass sich das Problem von selbst löst?«
    Er lächelte dünn. »Nichts ist so schlimm wie man fürchtet, dass es sein wird«, murmelte er.
    »Nein«, zischte sie. »Meistens ist es viel schlimmer. Wissen Sie, was man bei Krebs für Schmerzen hat? Wissen Sie, wie tapfer ein Mensch sein muss, um diese Qualen auszuhalten, wenn die Organe seines Körpers langsam von Tumoren aufgefressen werden?« Sie stach mit aggressivem Finger nach ihm. »Wissen Sie, wie viele von diesen Kranken ihrem Leben am liebsten ein Ende setzen würden?
Alle!
Wissen Sie, wie viele von ihnen um ihrer Familien Willen durchhalten?« Wieder stach sie wütend zu. »
Alle!
Erzählen Sie mir also nie, nie wieder, dass nichts so schlimm ist, wie man befürchtet.«
    »Es tut mir Leid.«
    »Hören Sie auf, sich dauernd zu entschuldigen«, schrie sie ihn an. »
Tun
Sie was!«
    Er hatte es nicht als Entschuldigung gemeint. Er hatte mit aufrichtiger Anteilnahme gesprochen. Ihre Furcht war etwas Körperliches, das ständigen Ausdruck verlangte, und nichts, was er sagte, würde sie beruhigen können. Sie hatte nie zuvor echte Todesangst erfahren, wusste nicht, dass die seelische Marter der Antizipation tausendmal schlimmer war als der flüchtige Schmerz der Realität. Aber er konnte sie das nicht lehren. Sie musste es selbst lernen.
    »Wir könnten Bretter vor die Fenster nageln, für den Fall, dass sie wieder mit Steinen werfen«, schlug er vor.
    Sie sah sich im Zimmer um. »Und wo sind die Bretter? Und die Nägel? Wir würden einen Hammer brauchen. Das ist eine blöde Idee.« Sie hielt inne, um zu überlegen. »Wir müssen wissen, was da draußen vorgeht«, sagte sie dann mit verzweifelter Dringlichkeit. »Darum wäre es besser, wenn wir in eines der vorderen Zimmer gingen. Da könnten wir wenigstens sehen, ob die Polizei draußen ist. Die Gefahr, dass wir von Steinen und Glasscherben getroffen werden, besteht überall.«
    Er war offenbar ihrer Meinung, denn er richtete seinen Vater vorsichtig in sitzende Position auf und stand halb auf, um sich halbherzig zum Kleiderschrank zu wenden.
    »Das ist ein Trick«, nuschelte Franek und packte ihn beim Arm, um ihn zurückzuhalten. »Hör nicht auf sie. Sie will dich nur mit Lügen durcheinander bringen, damit sie flüchten kann.« Sein Gesicht war blutverschmiert. Quer über seine Stirn verlief ein

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