Der Nachbar
vor Lisa. »So«, sagte er und gab jedem einen Klaps auf die Schulter. »Den Durchgang bewacht ihr jetzt. Wenn es von dieser Seite aus jemand schafft, sich durchzudrängeln, kriegt ihr's mit mir zu tun, und zwar richtig.« Er grinste wölfisch. »Ist das klar?«
Neuerliches Nicken.
»Lisa schickt hinter euch die Leute raus. Und ihr drei –«, er tippte den übrigen drei Burschen kurz auf die Köpfe, »helft ihnen zur Forest Road raus. Das heißt, dass ihr zuerst die Zone hier freimachen müsst. Ich mach den Anfang mit euch, dann müsst ihr selber sehen, wie ihr weiterkommt. Okay?«
»Die hören doch gar nicht auf uns«, wandte einer der Jungen ein.
»Und wie die hören werden! Gib mir mal die Zaunlatte da.« Er wies mit dem Kopf auf einen scharf zugespitzten Zaunpfahl, der abgesplittert war, als der Weg zum Nachbargarten freigeschlagen worden war. »Hier wird die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse geführt, und ihr steht zum ersten Mal in eurem erbärmlichen kleinen Leben auf der Seite der Engel.« Er sammelte Speichel im Mund, packte die Zaunlatte mit seiner schwarzen Pranke und drehte sich herum: mit rollenden Augen und gefletschten Zähnen, vor denen Schaum stand.
»Huaah!«, brüllte er, den Knüppel über seinem Kopf schwingend wie Cetshawayo in
Zulu
. »Huu-aaah!«
Die Vorstellung hatte mythische Dimensionen. Da schlug das tollwütige schwarze Riesenungeheuer die Horde in die Flucht. Die Menge wich augenblicklich zurück. Niemand hatte Lust, sich mit einem Wahnsinnigen anzulegen.
Jimmy rollte noch immer die weit aufgerissenen Augen, als er sich wieder den Jungen zuwandte. »Wehe, ihr seid nicht hier, wenn ich mit meiner Freundin zurückkomme!«, warnte er. »Ich dreh euch eigenhändig den Kragen um.«
Es gab keine Widerrede. Nur ein Schwachsinniger hätte sich gegen einen total Irren aufgelehnt.
Er drückte Lisa beruhigend die Schulter, als er sich an ihr vorbeidrängte. »Du brauchst nur zu rufen, wenn sie abhauen wollen. Ich hör dich!« Sie sah mit ängstlichem Blick zu ihm auf, und er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Keine Angst, Schätzchen. Es wird alles gut.«
Sie glaubte ihm und schöpfte Vertrauen aus seinen Worten – aber sie hätte sich wahrscheinlich nicht so leicht trösten lassen, wenn sie gewusst hätte, wie oft Jimmy James sich schon getäuscht hatte.
Er hätte nicht sooft gesessen, wenn er wenigstens hin und wieder mal Recht gehabt hätte...
19
Im Haus Humbert Street 23
Der Lärm draußen legte sich plötzlich, und eine einzelne Stimme – die Stimme einer Frau – stieg aus der Menge auf. Franek schlug sich befriedigt auf die Brust. »Das ist die Polizei«, erklärte er. »Erst machen sie einem Angst... dann machen sie Ordnung. So geht das.«
»Wir würden Lautsprecher hören«, entgegnete Sophie, angespannt lauschend.
»Sie müssen doch immer widersprechen«, sagte der Alte zornig. »Warum können sie nicht einfach zugeben, dass Franek Recht hat? Fällt Ihnen das so schwer? Wo bleibt Ihre Höflichkeit vor dem Alter?«
»Womit hätten Sie die verdient?«, versetzte sie heftig. »Und was ist das für ein Quatsch –« Sie versuchte wieder, seinen Akzent nachzuahmen –»‘erst machen sie einem Angst... dann machen sie Ordnung’? Sie reden, als hätten wir es mit der Gestapo zu tun. Was haben die denn Ihrer Meinung nach gerade da draußen getan? Jeden Zehnten abgeknallt, um die anderen zu ermutigen?«
Ein wütende polnische Tirade.
»Lassen Sie die Gestapo lieber aus dem Spiel«, sagte Nicholas warnend. »Viele aus seiner Familie sind im Krieg umgekommen.«
»Aus meiner Familie auch«, entgegnete sie unbeeindruckt. »Es gibt wahrscheinlich keinen einzigen Engländer, der nicht Großeltern, Onkel oder Tanten verloren hat. Das ist hier nichts Besonderes. Wenn Sie glauben, Sie können mich mit solchen Hinweisen in verlegenes Schweigen stürzen, täuschen Sie sich. Und das Gerede Ihres Vaters wird dadurch auch nicht vernünftiger. Es sind immer noch keine Sirenen zu hören«, erinnerte sie Nicholas.
»Vielleicht wollen sie vermeiden, die Situation zusätzlich anzuheizen.«
Sie schüttelte den Kopf. »
Irgendwas
würden wir merken«, beharrte sie. »Die Polizei weiß doch, dass Sie hier sind. Sie würde Sie nicht unnötig in Angst lassen.« (Sie meinte natürlich »mich«. Sie würde
mich
nicht unnötig in Angst lassen.)
Franek schnaubte gereizt. »Das reicht jetzt. Ist doch völlig egal, was sie tun, wenn es dazu dient, diese –«, er wies mit einer geringschätzigen
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