Der Nachbar
vor sich herschob. »Sie ist hingefallen.« Seine Unterlippe bebte. »Ich weiß auch nicht, wo meine Mama ist, Mister.« Eine dicke Träne rollte seine Wange hinunter.
Seufzend griff Jimmy mit großer Hand zu und zog die beiden an sich. »Jetzt kann euch nichts mehr passieren«, tröstete er.
Fünf Minuten später erklärte sich sein neuer Freund, der Soldat, überraschenderweise ohne jeden Protest bereit, die traurige kleine Schar unter seine Fittiche zu nehmen. Sie war um drei weitere schmutzige Rotznasen angewachsen, die von Freunden oder Eltern getrennt worden waren und zu verschreckt waren, um auf eigene Faust in der Menge nach ihnen zu suchen. »Sobald es ein bisschen ruhiger wird, nehm ich sie mit zu mir und mach ihnen einen Tee«, sagte er barsch. »Gehen Sie jetzt los. Die junge Karen wartet schon auf Sie. Denken Sie nur daran, die Haustür hinter sich zuzumachen. Sie hat schon Angst genug.«
»In Ordnung.« Jimmy bot ihm die Hand. »Vielen Dank, Meister, ich bin Ihnen was schuldig.«
»Es ist wie im Krieg«, sagte der alte Soldat wehmütig, als er Jimmys Hand nahm. »Das Unglück lockt unsere besten Seiten hervor.«
»Ja«, antwortete Jimmy mit leiser Ironie, »so was Ähnliches hat Ellen Hinkley auch gesagt.«
Die »junge« Karen war um die Sechzig und litt an der Parkinsonschen Krankheit. Sie saß im Rollstuhl und konnte nicht sprechen, aber sie nickte lächelnd, als Jimmy ihr dankte und sagte, er würde darauf achten, die Haustür hinter sich zu schließen. Er wollte sie fragen, ob sie Angst hatte...? Wer sich um sie kümmerte...? Ob sie einsam war...?
Aber dazu blieb keine Zeit. Und sie hätte es ihm ja sowieso nicht sagen können.
Er hatte das Gefühl, Menschen zögen und zerrten von allen Seiten an ihm. Mit finanziellen Verpflichtungen konnte er umgehen. Emotionale waren mörderisch. Unsichtbare Fäden verbanden ihn mit der ganzen verdammten Welt. Polizistinnen...Notärzte... couragierte alte Frauen... invalide alte Frauen... verrückte Soldaten... Kinder... Babys... Er zog Anonymität vor.
Gaynor warf ihm eine zusätzliche seidene Schlinge um den Hals, indem sie in Tränen ausbrach, als er plötzlich an ihrer Seite stand. »O Gott, Jimmy!« Weinend klammerte sie sich an ihn. »Gott sei Dank... Gott sei Dank. Ich hab die ganze Zeit gebetet, dass ein Wunder geschieht.«
Nach dem ersten Ansturm hatte das Gedränge nachgelassen; die Situation auf der Straße hatte sich dank des plötzlichen Abzugs von zwei- bis dreihundert Menschen etwas entspannt, so dass die Übrigen meinten, bleiben zu können, wo sie waren. Aber von Dauer würde dieser Zustand sicher nicht sein. Zu viele Menschen drängten von der Forest Road blindlings herein, als dass sich nicht erneut ein Stau bilden würde. Jimmy, der einen Kopf größer war als Gaynor, konnte es kommen sehen.
»Komm, gehen wir«, sagte er mit einem Nicken zum Korridor. »Du gehst nach Hause, und ich komm mit Mel und den Kindern nach, sobald ich sie gefunden hab.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann hier nicht weg«, erklärte sie bestimmt. »Einer muss hier bleiben, und das bin ich, weil ich schuld bin, dass es so weit gekommen ist.« Sie hielt ihr Handy hoch. »Ich hab einen Bullen an der Leitung. Der sagt, wir müssen den Ausgang hier freihalten... wenn möglich noch weitere öffnen... oder aber verhindern, dass noch mehr Leute in die Humbert Street kommen.« Sie hielt ihm das Telefon hin. »Red du mit ihm, Jimmy«, bat sie . »Bitte! Vielleicht kann er dir sagen, wie man das hier stoppen kann, bevor es Tote gibt.«
»Und was ist mit Mel?«
Angst verdunkelte Gaynors Augen. »Ich weiß es nicht. Wir sind getrennt worden. Ich sag mir einfach immer wieder, dass ich ihr vertrauen muss. Mel ist ein gescheites Ding, Jimmy, und sie würde nie zulassen, dass den Kindern was passiert.« Sie begann wieder zu weinen. »Ich mach mir ehrlich gesagt mehr Sorgen um Col.« Sie drückte eine Hand auf ihre Brust. »Er ist so ein Idiot, wenn er betrunken ist... aber ich hänge so wahnsinnig an ihm, Jimmy.«
Vor dem Haus Humbert Street 23
Colin war nie nüchterner gewesen. Und hatte nie größere Angst gehabt. Seine Haut unter dem T-Shirt glühte, und er wusste, wenn das Feuer nicht schnell gelöscht wurde, würde die Glut sie zwingen, ihren Posten aufzugeben, und das Haus würde in Flammen aufgehen. Immer wieder schaute er nach rückwärts, um zu prüfen, wie schnell das Feuer das Holz verzehrte. Er hatte von dem Brand eine klarere Vorstellung als seine
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