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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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entgegen, als dieser an ihrer Schlafzimmertür erschien. Mit einer Hand hielt sie ihm den Telefonhörer hin und mit der anderen wies sie fröhlich zum Gewühl auf der Straße hinunter. »Amüsieren sich alle gut?«, erkundigte sie sich, als würde da unten ein Straßenfest gefeiert, das sie initiiert hatte.
    »Einige, ja«, bestätigte er und hob den Hörer an sein Ohr, um Ken Hewitt mitzuteilen, dass er an Ort und Stelle war. Unwillkürlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass hier schon wieder eine alte Frau in augenscheinlicher Armut lebte. Kurze Blicke hinter offene Türen, als er sie oben im Flur gesucht hatte, hatten ihm gezeigt, dass alle Räume bis auf ihr Schlafzimmer praktisch leer waren. Wieso sie mutterseelenallein in einem Haus lebte, das groß genug für eine ganze Familie war, war rätselhaft. Der größte Teil ihrer Besitztümer schien in diesem einen Raum zusammengepfercht, nichts von Wert allerdings – Jimmy sah so etwas automatisch auf den ersten Blick, wenn er ein fremdes Haus betrat –, nur zweckmäßige Möbel, ein alter Fernsehapparat, ein paar Ziergegenstände und Fotos.
    »Lassen Sie sich von Mrs Carthew nicht stören«, sagte Ken Hewitt gerade. » Die ist vor ungefähr einer halben Stunde weggetreten – sie glaubt, es wäre Kriegsende... Anscheinend geht das bei ihr immer so hin und her, am Anfang war sie nämlich noch ganz da – aber wir halten es für besser, ihr einfach zuzustimmen, damit sie keine Angst bekommt.«
    »Sie lebt hier anscheinend ganz allein«, sagte Jimmy, sich halb abwendend, den Mund hinter der großen Hand versteckt, die den Hörer hielt. »Da wundert's mich gar nicht, dass sie abdriftet. In den anderen Zimmern steht kein einziges Möbelstück, und viel Besuch scheint sie auch nicht zu kriegen. Wahrscheinlich sind ihre Erinnerungen das Einzige, was sie hat... und das ist ziemlich traurig.«
    »Sie hat uns erzählt, dass ihre Kinder das Haus ausgeräumt haben, als sie sich vor zwei Jahren in einem betreuten Wohnheim angemeldet hat, bei dem sie immer noch auf der Warteliste steht. Die Kinder haben sich seither nicht mehr blicken lassen. Aber es ist besser, nicht an das Thema zu rühren. Genau an dem Punkt ist sie nämlich in eine andere Welt abgewandert – als wir von ihren Kindern sprachen.«
    »Kein Problem«, sagte Jimmy und zwinkerte Mrs Carthew aufmunternd zu. »Wie schon gesagt, ich gewöhn mich allmählich dran. Die sind alle so drauf. Hinten im Garten steht am Zaun so 'n alter Knabe Wache, der nen Stahlhelm auf hat, mit ner Machete rumfuchtelt und vom Krieg labert.«
    Prompt wurde Hewitt zum strengen Polizisten. »Das hätten Sie nicht dulden sollen. So was ist gefährlich.«
    »Umso besser. Er soll ja die Leute abschrecken.«
    »Aber wenn jemand verletzt wird, könnte er vor Gericht landen... würden Sie also bitte –«
    »Jetzt reicht's echt«, zischte Jimmy aufgebracht und kehrte Mrs Carthew den Rücken, um sie nicht zu beunruhigen. »Es ist mir im Moment wirklich scheißegal, was ihr Bullen tut, wenn der ganze Zauber vorbei ist. Ihr seid doch schuld dran, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Ich bin bloß hier, weil ich meine Freundin da rausholen will. Und eins kann ich Ihnen sagen – ne große Auswahl an Möglichkeiten haben wir nicht. Ich persönlich find's immer noch besser, wenn da einer steht, der die Leute irgendwie dazu bringt, wieder heimzugehen, als wenn rechts und links von dieser beschissenen Straße die Leute totgetrampelt werden. Versuchen Sie also nicht, Ihre Verantwortung auf mich abzuwälzen. Ich bin nicht die gottverdammte Polizei... und ich übernehm bestimmt keine Schuld für diese ganze Sauerei, bloss weil ihr Idioten zu blind wart, um sie kommen zu sehen. Mein alter Haudegen passt auf ein paar kleine Kinder auf und tut sein Bestes, um den Abzug der Leute zu überwachen – und wenn jemand was abkriegt, weil er ihm zu nah kommt, dann ist er selbst schuld dran. Capito?«
    Eine Frauenstimme meldete sich. »Jimmy, hier spricht Jenny Monroe.« Der Ton war ruhig und vernünftig. »Ich sitze im Nightingale Health Centre am Empfang. Ihre Freundin Melanie und ihre beiden Kinder sind Patienten bei uns – ebenso Gaynor und ihre Familie. Ich möchte Ihnen kurz erklären, wieso wir in diese Geschichte verwickelt sind und was wir zu unternehmen versuchen. Wir möchten über eine Organisation, ein telefonisches Netz, das eine unsere Ärztinnen eingerichtet hat, Leute in der Humbert Street ausfindig machen, die vielleicht bereit sind,

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