Der Nachtelf (German Edition)
eigentlich niemals verraten wollten. Osogo aber war Capitalmeisterobservator. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was die Beamten hier ehrfürchtig über seinen Scharfsinn und seine ungeheure Professionalität erzählten, wäre er mit allen Verhörtechniken vertraut, die jemals ein Mensch beherrscht hatte. Und sie als blutige Anfängerin würde sich sicherlich an ihm die Zähne ausbeißen.
Also war es doch sinnlos, Osogo zur Rede zu stellen.
Oder etwa nicht?
Dadalore fuhr auf. Das war es! Osogo wollte unbedingt, dass der Inhalt der Akte geheim bliebe. Schon dass sie jetzt um die Existenz solcher Pergamente wusste, würde ihn bis ins Mark treffen. Sie musste ihn erpressen. Er musste sie in das Geheimnis einweihen, sonst ginge sie sofort in den Alabasterpalast und würde die ganze Sache melden. Natürlich könnte sie niemals etwas tun, dass Recht und Ordnung gefährdete, aber Osogo kannte sie ja nicht. Wenn sie überzeugend genug auftrat, würde er ihr die Drohung schon abkaufen. Das war die Lösung.
Rasch stellte Dadalore sicher, dass sie in jeder Tasche wieder einen Lakaien trug. Sie trat vor den Spiegel und versuchte, sich in einen zivilisierten Zustand zurück zu katapultieren.
Eine Erpressung war natürlich eine höchst zweifelhafte Sache. Aber immerhin lag hier der dringende Verdacht vor, dass reichsgefährdende Informationen vor der Staatsmacht verheimlicht wurden. Da musste der heilige Zweck die Mittel rechtfertigen.
Allerdings war diese Unternehmung so brisant, dass sie keinen Capitalprotektor mitnehmen konnte. Die eigene Vorgesetzte bei wüsten Drohungen zu beobachten, mochte sich nicht jedem als sinnvoll erschließen.
Sie kannte nur einen, dem sie zugetraut hätte, diese Sache mit ihr gemeinsam durchzuziehen.
Wo aber war Valenuru, wenn man ihn brauchte?
Das Haus Osogos befand sich in Caramia am Seeufer. Es ragte drei Stockwerke auf und verfügte in beiden Obergeschossen über breite, säulengestützte Balustraden, von denen aus man einen herrlichen Blick über das Wasser haben musste.
Dadalore hatte Zuluward gefragt, wo Osogo wohnte. Tatsächlich schien der Capitalprotektor bereits mehrfach dort gewesen zu sein. Er hatte ihr den Weg sehr genau beschrieben – sehr genau und mit einem seltsamen Lächeln, ganz so, als habe ihre Frage einen gut verborgenen Erinnerungsschatz geweckt. Dadalore war so im Fieber ihres Vorhabens gewesen, dass ihr die seltsame Reaktion des Sklaven erst jetzt bewusst wurde.
Es war jedoch auch nicht besonders schwer, mit diesem prächtigen Haus schöne Erinnerungen zu verbinden. Selbst im spärlichen Licht der Nachtlaternen strahlte es noch weiß.
Dadalore hatte Osogo schon früher besuchen wollen. Weniger wegen seines hübschen Anwesens als aufgrund seiner legendären Ermittlungserfolge. Sie hatte davon geträumt, dass ein Meister seines Faches wie er sie unter seine Fittiche nehmen würde. Was hätte sie von einem wie ihm lernen können, wie viel Leid, wie viele Fehler wären ihr in den letzten Monden erspart geblieben. Und zugleich hatte sie ihn unzählige Male verflucht, weil er ihr genau diese Hilfe niemals gegeben hatte. Er hatte sich mit dem Tag seines Dienstendes auf sein hübsches Anwesen zurückgezogen und seiner Nachfolgerin allein das Feld überlassen. Sicher, dass war sein gutes Recht, er hatte seine Pflicht an König und Reich geleistet. Und dennoch konnte Dadalore nicht anders, als ihn dafür zu hassen.
Er war nicht da.
Sie klopfte zum wiederholten Male an die Tür und wartete. Niemand tat ihr auf. Im Haus war alles ruhig, die Fensteröffnungen dunkel. Zum Zubettgehen war es noch zu früh. Wenn jemand daheim wäre, würde ein Licht brennen.
Dadalore war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Endlich hatte sie das Gefühl, einen Ermittlungserfolg erzielen zu können, noch dazu in einer so wichtigen Sache. Vielleicht würden ihre Untergebenen sie endlich mit anderen Augen ansehen. Und wie sie erst vor Valenuru dastehen würde. Es wäre schön, von ihm bewundert zu werden.
Am besten wartete sie einfach hier, bis Osogo wieder auftauchte.
Ein gut situiertes Viertel. Es war eine jener bürgerlichen Wohngegenden, in denen die stolzen Bewohner ihre Häuser selbst besaßen und in denen sie einander darin übertrafen, sie herzurichten und mit Blumen, Dachterrassen und Wandornamenten zu verzieren. Osogos Haus hatte sehr feine Verzierungen, aber es war weit und breit das einzige ohne Pflanzen.
»Wollt Ihr zum alten Capitalmeisterobservator?« Eine
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