Der Nachtelf (German Edition)
Anstand fehlt, werdet Ihr durch eine freche Zunge nicht wettmachen können.«
»Und woran es Euch mangelt, will ich hier gar nicht alles aufzählen, so ausdauernd ist die frechste Zunge nicht.«
»Ihr strapaziert meinen Langmut nicht weiter, junge Dame. In Respekt vor Eurem von den Göttern verliehenen Amt habe ich Euch noch nicht einkerkern lassen, aber auch dieser Respekt hat sich nun erschöpft.«
Dadalore fuchtelte wild mit einem blutbesprenkelten Pergament vor dem Mann herum. »Euer Gehör hat sich offenbar schon früher erschöpft. Ich sagte, ich habe hier einen Passierschein!«
»Aus welcher dreckverschmierten Gosse Ihr dieses Pergament auch immer gezogen habt, es ist ganz gewiss kein amtliches Dokument.«
»Passierschein aus der Feder Heiduguns-Wer-dient-den-Göttern«, brüllte Dadalore und hämmerte mit dem Zeigefinger beinahe ein Loch in das Schriftstück.
Patmelu musterte sie voll stummen Zorns.
Die Wächter im Hintergrund bewahrten Fassung. Nicht einmal ein Blinzeln oder ein Zucken der Mundwinkel verriet, dass sie an dem Geschehen Anteil nahmen.
»Zeigt doch einmal her, Eure Capitalobservatorin«, sagte der Befehlshaber betont kühl.
Dadalore reichte ihm das Pergament, das der Mann nach einigem Suchen an der am wenigsten blutbespritzten Stelle mit zwei Fingern fasste. Er las die wenigen Zeilen so lange wieder und wieder, dass Dadalore sich allmählich fragte, ob sie ihm vielleicht bei einigen Buchstaben aushelfen könne.
Schließlich sagte er: »Das hat tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schrift des Ersten Staatsschamanen.«
»Eine gewisse Ähnlichkeit? Ihr habt vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Menschen. Das hier ist ganz genau Heiduguns Unterschrift.«
Der Prinzipalprotektor funkelte sie an. »Es sind schon Sklaven wegen geringerer Unverschämtheiten inhaftiert worden.«
So unverständig konnte man doch einfach nicht sein. »Allerdings müsstet Ihr dem Obersten Staatsschamanen persönlich mitteilen, warum seine Botin den König nie erreicht hat.«
Patmelu kam so nah heran, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. »Ihr könnt passieren.« Er lächelte dünn und fügte hinzu: »Unter den gegebenen Umständen müsst Ihr auf mein Geleit hinein leider verzichten.«
Dadalore würdigte ihn keines weiteren Blickes und lief zwischen den Wächtern hindurch.
Sie war mit den blutverschmierten Füßen in ihre Stiefel geschlüpft, was ihr zutiefst widerstrebt hatte. Aber für eine Fußwäsche reichte die Zeit nicht und ohne Schuhwerk konnte sie keinesfalls vor dem König erscheinen. Überhaupt war ihr ganzes Erscheinungsbild eine Beleidigung Ihrer Majestät. Sie konnte nur hoffen, dass die Botin hinter der Brisanz der Botschaft verblassen würde.
Dadalore öffnete die Tür zum Thronsaal.
Vierundzwanzig Marmorsäulen, zwölf auf jeder Seite, trugen das gewaltige Kuppeldach. Der Raum war lichtdurchflutet. Zwölf bunte Glasfenster auf jeder Seite ließen die Nachmittagssonne ein. Dazwischen waren die Wände mit Schattenrissen unzähliger Tierarten bemalt: Alligatoren, Elefanten, ganze Antilopenherden, Wasserbüffel, Flusspferde, Gnus, Hyänen und riesige Gorillas umtanzten den Raum und gaben ihm eine urwüchsige Kraft. Der unvoreingenommene Beobachter hätte sie für Wandschmuck von beispielloser Schönheit gehalten, doch Dadalore wusste es besser. Es waren Blutbiester, die sich vermutlich auf einen Fingerzeig des Königs hin jedem Feind entgegen werfen würden.
Am Kopfende des riesigen Saals führten drei Marmorstufen zum Thron hinauf, der von zwei lebensechten Ruptu-Standbildern flankiert wurde. Der Thron war dem uralten Hofzeremoniell zur Folge ein einfacher Stuhl aus Holz.
Der Thron war leer.
Ein gutes Stück links und rechts des Thrones führten Türen in die hinteren Räumlichkeiten. Die rechte Tür stand offen und eine leise Stimme drang heraus. Dadalore konnte auf die Entfernung nichts verstehen und dankte den Göttern dafür. Den König zu belauschen, war eine Todsünde.
Dennoch fühlte sie sich unbehaglich. Ihr lief die Zeit davon, sie durfte nicht herumstehen und warten. Andererseits hatte dieser verfluchte Prinzipalprotektor sie nicht angekündigt. Es war bei strengster Strafe verboten, das Wort ungefragt an den König zu richten. Sie war also verdammt zu warten.
Gleich würde die Feier beginnen. Vermutlich traf der König gerade letzte Vorbereitungen und hatte keinerlei Zeit für sie.
Das Wispern im Nebenraum ebbte einfach nicht
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