Der Nachtelf (German Edition)
aufgebaut: Ein pflanzenüberwucherter Felsen ragte mehrere Mannslängen auf, von oben herab ergoss sich ein künstlicher Wasserfall, der in einen See von bestimmt zehn Schritt Durchmesser mündete. Der Abfluss war nirgends zu erkennen und musste unter der Bühne erfolgen. Bimkugard, die Erste Königliche Hofzeremonienmeisterin, stolzierte hektisch auf der Bühne hin und her und gab Anweisungen, die wegen ihrer ausladenden Gestik bis hier zu sehen waren.
Sechs schwer gerüstete Ruptu schoben sich durch die Menge unmittelbar auf die Bühne zu. In ihrer Mitte war eine kleine Gestalt mehr zu erahnen als wahrzunehmen. Die ungleiche Prozession erreichte die Rittari, deren Reihen sich bereitwillig öffneten. Die sechs Echsen blieben zu Füßen der Bühne stehen, während die kleine Gestalt behände hinaufkletterte. Die weiß geschminkte Fratze war selbst auf die Entfernung noch hässlich, die tausend roten Zöpfchen unverkennbar. Waltumpe.
Jubel brandete in der Menge auf. Der Lärm war so ungeheuerlich, dass Dadalore sich die Ohren zu hielt. Waltumpe deutete eine Verbeugung an und grinste raubtiergleich.
Dadalore kannte die Grobplanung der Feierlichkeiten seit Wochen und wusste, dass alle vier Hohepriester daran beteiligt waren. Nun, beteiligt sein sollten. Sie fragte sich, ob inzwischen jemand den Tod Annanakas bemerkt hatte. Sie musste doch vermisst werden.
Sie hatte noch kaum Gelegenheit gefunden, über das Geschehen im Palast nachzudenken. Die Verschwörung war so dicht an den König herangekommen, wie es nur irgend möglich war. Aber was war das Ziel, wozu das Ganze? Wenn es darum ging, ihn zu ermorden, wäre das längst geschehen angesichts der Möglichkeiten, die die Verschwörer in dieser Hinsicht hatten.
Andererseits war Königsmord auch jenseits der höchsten Götterlästerlichkeit ein problematisches Verbrechen. Wenn König Gowofred starb, würde es eine Untersuchung geben, bei der kein Stein in ganz Kamboburg auf dem anderen verbleiben würde. Vielleicht scheuten die Verschwörer dieses Risiko.
Und plötzlich wurde ihr alles klar.
Wer selbst vor Strafverfolgung sicher sein wollte, benötigte einen Mörder, der an seiner Statt gerichtet wurde. Nach allem, was sie eben gehört hatte, sollte sie dieser Assassine sein. Der König sollte sterben. Sie würde als vermeintliche Täterin vermutlich noch vor Ort erschlagen, um ganz sicher zu gehen. Danach würde das göttliche Los einen neuen König bestimmen. Und dass die Verschwörer die Möglichkeit besaßen, das göttliche Los zu manipulieren, hatte die Stimme dem König geflüstert.
Aber das hieß ja, dass es ihr größter Fehler war, überhaupt hier erschienen zu sein! Natürlich, sie musste von Amts wegen hier sein. Deswegen konnten sich die wahren Attentäter darauf verlassen, dass sie auch tatsächlich auftauchte.
In diesem Augenblick erspähte sie Valenuru in der Menge. Er steckte mitten in dem Gewühl und schien gerade zwei Capitalprotektoren mit gebrüllten Anweisungen zu versehen. Wenigstens einer sorgte für Ordnung.
Da drehte sich Valenuru wie von Geisterhand um und sah genau zu ihr hinauf. Er lächelte schief, und winkte ihr zu.
Mechanisch winkte Dadalore zurück.
Der Capitaloberobservator bewegte sich durch die Menge auf ihr Holzgerüst zu. Er tat das irgendwie anders als die anderen. Es sah aus, als glitte er durch das ungeheure Gedränge hindurch, ohne auch nur einen Menschen zu berühren. Nun hatte er das Podest erreicht und schwang sich über die Holzverstrebungen nach oben. Die Menge hinter dem Geländer applaudierte. Valenuru, im dritten Stockwerk angelangt, verbeugte sich grinsend. Er trat neben Dadalore und rief ihr, um den Lärm zu übertönen, ins Ohr: »Warum so spät, meine Hübsche? Du wirkst ein wenig derangiert.«
Sie war unendlich froh, ihn an ihrer Seite zu wissen. Sie hatte bereits befürchtet, das alles allein durchstehen zu müssen. Sie beugte sich vor und brüllte zurück: »Die Verschwörer planen ein Attentat auf den König. Hier! Es soll so aussehen, als ob ich die Mörderin wäre.«
Sie hatte eine heftige Reaktion erwartet: Erstaunen, Erschrecken, Erschütterung. Stattdessen geschah zunächst einmal gar nichts, Valenuru sah sie nur durchdringend an.
Hatte er nicht begriffen, was sie gesagt hatte? Vielleicht hatte er es einfach nicht verstanden, dieser verfluchte Lärm hier. Sie brüllte noch einmal: »Ich muss hier fort!«
Er schüttelte den Kopf. »Das würde nichts bringen. Wenn du Teil des Plans bist, lassen sie
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