Der Nachtelf (German Edition)

»Frauen, zieht doch mal alle Eure Schuhe aus!«
    Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ein beispielloses Gezeter brach aus und steigerte sich zu einem Lärm, der Dadalore selbst in ihrem Versteck noch in den Ohren schmerzte.
    »Zieht Ihr doch die Schuhe aus, wenn Ihr Füße mögt!«
    »Marhobib, das hat schon lange kein Mann mehr zu mir gesagt.«
    »Kauft Euch doch selber Schuhe!«
    »Wer seid Ihr überhaupt?«
    »Trägt nicht mal eine Uniform, aber führt sich hier auf wie der Leiter der Wache!«
    »Passt bloß auf, sonst lernt ihr meine Schuhe an sämtlichen Körperteilen kennen!«
    Dann flogen die ersten Gegenstände.
    Mit unendlicher Erleichterung sah Dadalore, wie der Capitalmeisterscriptor und der Prinzipalprotektor das Weite suchten.
     
     
    In höchsten Höhen
     
     
    »Wir haben die Angaben Ghalikans überprüfen lassen. Auch der Oberste Hexenmeister hat Euch wahrheitsgemäß Auskunft gegeben.« Bamulaus hielt ein Bündel Pergamente in die Höhe.
    Dadalore nickte geistesabwesend und deutete auf eine freie Ecke ihres Schreibtischs.
    Der Capitalprotektor legte die Schriftstücke ab und war bereits wieder im Begriff, den Raum zu verlassen, da tönte es »einen Moment noch« hinter ihm. Er drehte sich um.
    Seine Vorgesetzte betrachtete ihn. »Bamulaus, wir müssen uns besprechen.«
    »Wie Ihr wünscht, Eure Capitalobservatorin.«
    Dadalore schätzte die Meinung des alten Sklaven. Er hatte schon lange Jahre unter ihrem viel gelobten Amtsvorgänger Dienst getan und ging auch verzwickte Probleme mit einer Ruhe und Abgeklärtheit an, die sie bewunderte. Sie erwog kurz, ihn in ihre Erpressung durch Ghalikan einzuweihen, entschied sich aber dagegen. Sie hatte bereits Valenuru in einem schwachen Moment ins Vertrauen gezogen. Ein Mitwisser zu viel konnte die ganze Sache auffliegen lassen und ihr das Genick brechen.
    »Gibt es Schwierigkeiten, Eure Capitalobservatorin?«
    »Nein. Ich meine: ja. Wir kommen in dieser Mordsache einfach nicht weiter. Bisher scheinen alle Spuren im Sande zu verlaufen. Ach, was rede ich, eigentlich haben wir nicht einmal richtige Spuren. Wir stochern im Nebel.«
    »Das tut mir leid, Eure Capitalobservatorin.«
    Dadalore zog eine Grimmasse. »Ihr habt doch bereits unter Osogo-Wem-fehlt-die-Zeit gedient. Was hätte er in einer solchen Situation getan?«
    Bamulaus sah an ihr vorbei. »Der Capitalmeisterobservator war ein sehr systematischer Ermittler. Er hat zunächst alle Fakten aufgelistet und kategorisiert. Informationen, die weitere Fragen aufwarfen, wurden besonders gekennzeichnet.«
    »Und?«
    »Dann hatte er meistens einen seiner genialen Einfälle.«
    Dadalore seufzte. »Ich bin die Situation schon hunderte Male durchgegangen, das könnt Ihr mir glauben. Das Ergebnis ist immer das Gleiche: Wir haben drei tote Ruptu, die niemand kennt. Einen Palast, in den niemand hineinkommt, in dem aber dennoch Verbrechen geschehen. Einen Priester, der sich mitten auf der Straße in ein Monster verwandelt, nur um kurz darauf grundlos zu sterben. Einen Strafgefangenen, der ebenso grundlos gemeuchelt wird. Als Täter kommen eigentlich nur mächtige Zauberkundige infrage, aber ...« Sie wedelte mit einem Stapel Protokolle. » ...aber die haben samt und sonders ihre Alibis. Waltumpe und Ghalikan haben die Todkranken im Spital verflucht und wurden dabei von dutzenden Zeugen gesehen. Heidugun war in seinen Gemächern und ein Leibwächter bestätigt, dass er sie keinesfalls verlassen hat. Und Annanaka hat zur fraglichen Zeit die Ausbildung der Jungschamaninnen beaufsichtigt. Nichts, nichts und wieder nichts. Außerdem sind wir nicht einen Deut weiter bei der Frage, wie der Täter es eigentlich angestellt hat, in den Palast zu kommen. Die mächtigsten Zauberkundigen des Reiches sagen übereinstimmend, dass das gar nicht möglich sei. Ich lasse jede einzelne ihrer Auskünfte nachprüfen und erfahre immer wieder nur, dass sie alle wahr sprechen.« Sie sah Bamulaus an, als stünde der Hauptverantwortliche für alle Unbill vor ihr.
    »Das ist sehr bedauerlich, Eure Capitalobservatorin.«
    »Verdammt, Bamulaus, ich brauche nicht dein Mitleid, sondern deinen Verstand! Was hätte Osogo jetzt getan? Und speise mich nicht wieder mit Allgemeinplätzen ab, ich will eine klare Antwort!«
    Der Capitalprotektor wog das graue Haupt bedächtig hin und her. »Vielleicht haben wir etwas übersehen? Euer Amtsvorgänger pflegte zu sagen, die Menschen seien blind für das Offensichtliche.«
    Dadalore ballte die Hände zu