Der Nachtschwärmer
aus ihren Träumen erwachen. Das würde mir auch so ergehen. Aber Träume sind Schäume.« Sanft strich Lorna mit den Fingerkuppen um die Augen der Freundin herum. Sie spürte die Narben der Operationen. Die Ärzte hatten wirklich alles getan, um das Augenlicht zu retten. Sie hatten es nicht geschafft. Carla war leider blind geblieben wie auch die anderen hier im Heim.
»Gehst du jetzt?«
»Ja.«
Carla zog die Nase hoch. »Wenn du zurückkommst und ich noch wach bin, erzählst du mir dann, was du erlebt hast?«
»Gerne.«
»Ich bete für dich, dass dich dein Schutzengel nicht verlässt. Es gibt ihn, den Schutzengel. Manchmal sehe ich ihn im Traum. Dann besucht er mich und tröstet mich.«
»Du bist nicht verlassen.«
»Nein, das bin ich nicht. Irgendwo ist immer noch jemand, und darüber freue ich mich.«
»Dann leg dich wieder hin.«
»Klar.«
Lorna Higgins ging zur Tür. Auch dieser Weg war kein Problem für sie. Sie kannte ihn im Schlaf. Sie stieß nirgendwo an und öffnete die Tür sehr vorsichtig.
Die leise Stimme ihrer Freundin hielt sie zurück. »Lorna...?«
»Ja, was ist denn?«
»Denk an deinen Schutzengel.«
»Danke, werde ich machen.« Nach dieser Antwort schlüpfte Lorna aus dem Zimmer und in den Flur hinein...
***
Einige Minuten später fühlte Lorna den Ersatzschlüssel zwischen ihren Fingern, steckte ihn mit einer sicheren Bewegung ins Schloss der Hintertür und drehte ihn herum.
Nur Carla wusste, dass sie sich den Schlüssel besorgt hatte und wie schwierig dieses Unterfangen gewesen war, aber Carla würde nichts sagen, denn wenn Lorna nicht mehr aus dem Heim kam, dann würde sie auch nicht erfahren, was es in der hellen Welt Neues gab.
Hinter der Tür lag der Garten, der sich um das Haus herum ausbreitete. Vieles wurde selbst angebaut. Gemüse, Kartoffeln, auch Obst, und gerade jetzt, im Juli, waren die Kirschen so reif und prall. Sie schmeckten wunderbar. Auf einen Kirschpudding freuten sich immer alle im Heim.
Lorna war jetzt vorsichtiger als im Zimmer. Sie wusste nicht, was sich möglicherweise verändert hatte, denn an der Rückseite des Hauses wurden oft Kisten und andere Gegenstände gestapelt, die irgendwann abgeholt wurden.
Im Hellen hätte sie die Hindernisse erkennen können, aber in der Dunkelheit hatte sie ihre Probleme. Und doch liebte sie die Nacht, weil die einfach eine andere Botschaft mitbrachte als der Tag. Sie war nicht still, nein, das auf keinen Fall. Der normale sehende Mensch nahm das nicht so wahr, aber bei Lorna hatten sich die Sinne geschärft. Gerade das Gehör spielte bei ihr eine besondere Rolle. Da nahm sie Geräusche wahr, die andere in der Nacht nicht mitbekamen.
Hinzu kamen auch die Gerüche. Sie waren in diesen Stunden besonders intensiv. Lorna glaubte daran, dass der Luftdruck fiel. In zwei bis drei Tagen würde das Wetter Umschlägen, dann war es mit den warmen Sommertagen endgültig vorbei.
Der Duft der Sommerblumen schwängerte schon die Luft, aber es kam noch etwas anderes hinzu. Ein fauliger Duft, der roch, als wäre er einem alten Tümpel entströmt. Lorna wusste, dass dies nicht der Fall war. Es gab keinen Tümpel in der Nähe, aber nicht weit von hier entfernt lauerte das Moor auf seine Opfer. Es war schon Jahrhunderte alt, und noch immer wurde davor gewarnt, es zu betreten. Selbst die sehenden Mitarbeiter im Heim fürchteten sich davor und hüteten sich, es zu betreten. Keiner wollte darin versinken.
Der Wind wehte über das Moor hinweg und schickte Lorna den Geruch zu, der auch dann nicht verschwand, als sie sich an dem Gebüsch am Rande des Grundstücks vorbeidrückte.
Sie war bewusst dorthin gegangen, denn hinter dem Gebüsch und in guter Deckung stand eine alte Bank, die für sie in der Nacht der ideale Platz war, um sich auszuruhen.
Die alten Bohlen waren leicht feucht geworden.
Sie spürte es durch den Stoff ihrer Hose, aber das machte ihr nichts aus. In der nächsten Stunde würde sie hier bleiben und das Stück Freiheit verteidigen, dass sie sich erworben hatte.
Lorna bedauerte wieder einmal, dass ihre Sehkraft nicht so gut war, um die Sterne am Himmel zu sehen. Es musste eine dieser wunderbaren Sommernächte am Meer sein, von denen sie nur träumen konnte. Sie liebte diese Zeit, sie stellte sich vieles vor, und wenn sie dann das Geräusch eines hoch über ihr fliegenden Flugzeugs hörte, geriet sie regelrecht ins Schwärmen und träumte von anderen und fernen Ländern, die sie leider nie besuchen würde.
Aber es gab
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