Der Nachtschwärmer
waren sie so laut, dass sie das Gefühl überkam, den Unbekannten greifen zu können. Da war etwas passiert, und sie würde jetzt eine Zeugin werden und...
Er war da!
Sie sah ihn!
Lorna unterdrückte nur mit Mühe einen Laut. In diesen Momenten dachte sie nicht daran, dass es für sie besser gewesen wäre, wenn sie normal hätte sehen können, nein, das reichte ihr aus, denn sie erkannte, dass der Garten Besuch bekommen hatte.
Das war kein Mensch!
Das war der Nachtschwärmer. Ein unheimliches, ein großes, dunkles Flatterwesen, das jetzt geschickt zur Landung auf der Wiese ansetzte.
In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie die Zeugin von etwas Unheimlichem wurde.
Sie hätte vor Wut über ihre Behinderung schreien können, doch das tat sie nicht. Selbst ihren Atem kontrollierte sie, damit er sie nicht verriet.
Der Mensch, das Wesen – was immer es auch sein mochte –, hatte seinen Landeplatz erreicht. Lorna war gespannt, was nun passieren würde. Sie sah wieder zu wenig, aber sie bekam mit, dass die Gestalt kleiner wurde. Wie bei einem Riesenvogel, der seine Beute gefunden hatte und jetzt seine Schwingen anlegte.
Vor Nervosität kaute sie auf ihren Fingernägeln. Jetzt kam ihr auch in den Sinn, welch ein Glück sie gehabt hatte, denn der Nachtschwärmer hätte sie aus der Luft durchaus sehen können.
Wie ging es weiter?
Als sie Blut an ihrer Zeigefingerkuppe spürte, ließ sie den linken Arm sinken und reckte ihre Gestalt wieder höher. Er war noch da, aber jetzt bewegte er sich nicht mehr. Er stand auf der Stelle.
Hinter den dicken Gläsern der Brille zwinkerte sie mit den Augen. Fast konnte sie nicht glauben, was sie da zu sehen glaubte. Er hatte sich verändert. Seine Gestalt war geschrumpft. Die Umrisse, die sie jetzt sah, glichen denen eines Menschen.
Mein Gott, was hatte er vor?
Lorna wartete zitternd ab. Selten in der letzten Zeit hatte ihr Herz so stark geklopft. Er würde gewiss kein Obst stehlen wollen und war bestimmt gekommen, um etwas anderes in die Wege zu leiten, auf das sie nicht mehr lange zu warten brauchte, denn jetzt ging er mit einem langen Schritt nach vorn.
Dann legte er noch einen Schritt zurück, und jetzt verfluchte Lorna wieder ihre schwache Sehkraft, denn sie hatte den Eindruck, als würde sich die Gestalt auflösen oder von der Dunkelheit verschluckt werden. Plötzlich war sie nicht mehr zu sehen, aber sie wusste sehr genau, in welche Richtung sie gegangen war.
Auf das Haus zu.
Und da gab es zwar Fenster an der Rückseite, aber auch noch den Hintereingang.
Ein leises, aber typisches Geräusch erreichte ihre Ohren. Sie wusste jetzt genau, dass der Unbekannte die Hintertür geöffnet hatte, um so ins Haus zu gelangen.
Der Gedanke trieb ihr den Schweiß aus den Poren. Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, dann sah es alles andere als gut für die Schlafenden aus. Dann hatte er freie Bahn, und das zumeist bei den Blinden, denn vom Personal schliefen nur wenige Personen im Heim. Die meisten fuhren zurück zu ihren Wohnungen in den Dörfern im nahen Umkreis.
Aber einer blieb immer im Heim!
Es war der Chef, der Leiter, der Mann, der mit Namen Paul Erskine hieß.
Lorna wusste auch, wo er sein Zimmer hatte. Direkt neben dem Büro, und das war auch durch die Hintertür über einen Flur leicht zu erreichen.
Mit ihrem feinen Gehör nahm sie das Zuschlagen der Tür wahr. Danach wurde alles wieder ruhig.
Lorna Higgins stand auf der Stelle und überlegte, was sie machen sollte. Sie wusste es nicht.
Durch ihren Kopf wirbelten die Gedanken, aber sie in eine Richtung zu formieren, war ihr nicht möglich. Es musste einfach etwas passieren. Sie konnte diesen Unhold nicht einfach durch das Haus schleichen lassen.
Wieder hätte sie heulen können, weil ihr die normale Sehkraft fehlte. Wenn sie richtig sehen könnte, hätte sie nicht die Probleme gehabt, die jetzt vor ihr lagen.
Den Weg zur Hintertür kannte sie. Sie war nervös, denn sie hatte es eilig. Sie achtete nicht so auf ihre Umgebung, wie es hätte sein müssen, und schon passierte ihr das Unglück, denn sie trat falsch auf, sie sah auch nicht das Hindernis am Boden – einen Spaten – und verhakte ihren rechten Fuß unter den Griff, während sie mit dem linken auf ihn trat.
Lorna Higgins fiel lang aufs Gesicht!
Zum Glück war da der Rasen, der ihren Aufprall dämpfte, und so tat sie sich nicht zu sehr weh.
Aber sie hatte Zeit verloren, und das passte ihr überhaupt nicht. Wenn sie richtig rechnete, dann konnte
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