Der Nachtschwärmer
Meinung. Ich habe ihn gesehen. Er ist ein fliegendes Ungeheuer. Er ist grausam und schlimm. So etwas gibt es normalerweise nicht, aber ich habe ihn trotzdem gesehen, und das macht mir Angst. Und dann denk daran, was sich die Leute hier im Umkreis erzählen. Dass es Tote gegeben hat und dass junge Frauen verschwunden sind. Du weißt doch selbst, dass die Polizisten bei uns gewesen sind und Fragen gestellt haben.«
»Aber du hast ihnen nichts gesagt.«
»Ja, bewusst nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Weil sie mir nicht geglaubt hätten. Nicht einer Sehbehinderten. »Das kannst du dir selbst ausrechnen.«
»Dann kannst du auch nicht verlangen, dass die Polizisten den Nachtschwärmer fangen.«
»Nein, sie nicht. Sie suchen einen normalen Mörder. Oder haben es schon fast aufgegeben.«
»Und du?«
»Ich nicht«, flüsterte Lorna, was Carla veranlasste, leise zu kichern. Es verging eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Was willst du allein schon ausrichten? Nichts, gar nichts. Du bist behindert, du kannst kaum sehen, und jetzt willst du losziehen und ein fliegendes Ungeheuer fangen?«
»Davon habe ich nichts gesagt.«
»Aber was willst du denn tun?«
Lorna schwieg zunächst. Sie erhob sich von der Bettkante und ging zum Fenster. Wer sie jetzt beobachtet hätte, der hätte nichts von ihrer Sehbehinderung mitbekommen. Lorna bewegte sich so normal durch den Raum wie jeder Sehende auch. Und als sie vor dem Fenster stand, da griff sie mit zielsicherem Griff zum Hebel und drehte ihn herum, so dass sie das Fenster aufstoßen konnte.
Die Nachtluft tat ihr gut. Sie roch so intensiv. Vom nahen Meer her wurde der Geruch des Wassers mitgebracht, in den sich die Düfte der Natur mischten. Lorna glaubte, jede einzelne Sommerblume riechen zu können. Auf ihre Lippen legte sich ein Lächeln, und hinter den dicken Brillengläsern bewegten sich die Augen. Aber es war kein Licht in der Nähe, und so konnte sie in der Nacht nichts erkennen. Nicht mal Umrisse nahm sie wahr, aber der Atem der Natur reichte ihr aus.
Das Haus stand ziemlich einsam. Um es herum gab es nichts. Und bis nach Penare war es recht weit. Die Blinden selbst gingen den Weg sowieso nicht allein. Wenn sie einen Ausflug machten, dann immer mit den Betreuern. In der letzten Zeit waren die Ausflüge rar geworden. Andere litten mehr darunter als Lorna, weil sie wenigstens noch etwas erkennen konnte.
»Wie lange willst du denn aus dem Fenster schauen?«
»Mal sehen.«
»Siehst du denn was?«
»Nein.«
»Ha, ha, dann ergeht es dir auch nicht besser als mir. Ich weiß gar nicht mehr, wie die Welt aussieht. Ehrlich.«
»Sie ist wunderschön.«
Carla schluckte und flüsterte dann: »Hör auf. Das kann ich nicht mehr hören.«
»Schon gut, entschuldige.«
Lorna Higgins schloss das Fenster wieder. Danach drehte sie sich um, legte sich aber nicht hin, sondern blieb nachdenklich zwischen den beiden Betten stehen, was Carla auffiel.
»He, warum legst du dich nicht hin?«
»Ich bin nicht müde.«
»Du willst weg, wie?«
»Kann sein.«
»Das ist verboten!«, zischelte Carla.
»Weiß ich doch. Wenn du mich nicht verrätst, dann merkt es keiner.«
»Keine Sorge, das mache ich nicht, wenn du mir versprichst, mich mal mitzunehmen, aber nur, wenn es den Nachtschwärmer nicht mehr gibt. Ist das okay.«
»Ja, versprochen.«
»Toll.« Sie sprach weiter. »Nimmst du denn wieder den Hinterausgang?«
»Ja.«
»Woher hast du den Schlüssel?«
»Sage ich nicht.«
»Du bist gemein.«
»Mein, nur vorsichtig.«
Das akzeptierte Carla. Sie bewegte sich in ihrem Bett. »Und hast du keine Angst vor dem Nachtschwärmer, dass er dich holen könnte? Du weißt doch, dass da wieder was passiert ist.«
»Er wird mir nichts tun. Ich kann mich auch verstecken. Außerdem wird er bestimmt bald gefasst werden.«
»Ach«, flüsterte Carla. »Das hat sich so überzeugt angehört. Was macht dich denn so sicher?«
»Ich habe etwas in Bewegung gesetzt. Und vielleicht haben wir Glück, dass ja alles klappt.«
»Was denn?«
»Pst!« Lorna trat an das Bett ihrer Freundin heran. In schwachen Umrissen sah sie deren Gesicht. Sie strich darüber hinweg und spürte auch die Nässe des Tränenwassers.
»Was hast du denn?«
»Im Traum kann ich immer sehen. Da ist die Welt so wunderbar und voller Farben.«
»Ich weiß. Sie ist wirklich schön. Aber vielen von uns ergeht es so wie den Menschen ohne Beine. Wenn sie träumen, dann sehen sie sich laufen, und viele wollen gar nicht mehr
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