Der Nachtschwärmer
denn?«
»Ich bin es«, erklärte Lorna und dachte über den verschlafenen Klang nach.
»Wer?«
»Lorna Higgins!«
Ein kurzes hartes Lachen erklang. »Verdammt, was willst du um diese Zeit? Weißt du, wie spät es ist?«
»Aber es ist dringend. Wirklich.«
Sie hörte ein Stöhnen und wusste nicht, wie sie es einordnen sollte. Wieder begann sie zu zittern.
»Gut, dann komm rein...«
»Ja, sofort.« Es war nicht abgeschlossen. Sie drückte die Klinke nach unten und stieß die Tür langsam auf.
In diesem Augenblick schaltete Paul Erskine eine Wandleuchte ein, so dass es heller wurde. Der Schein wies auch Lorna den Weg, und zugleich überkam sie von einem Moment zum anderen eine fürchterliche Angst...
***
Paul Erskine hatte im Bett gelegen, und darin befand er sich noch immer, auch wenn er jetzt nicht mehr lag, sondern saß. Er hatte sich einen dunklen Bademantel übergestreift, doch das sah Lorna Higgins nicht so genau, auf sie wirkte Paul Erskine leicht verschwommen.
Nach einem zögerlichen Schritt über die Schwelle blieb sie stehen. Zuvor hatte sie ihren rechten Arm ausgestreckt, um sich mit der Hand an der Wand abstützen zu können.
»Du bist das?«
»Ja.«
»Verstehe ich nicht«, erklärte Erskine, noch immer ein wenig erstaunt. »Ist egal, setz dich.«
»Äh... wohin?«
»Kannst du nicht sehen?«
»Doch, das wissen Sie, aber ich kenne mich hier nicht aus.«
»Komm näher.«
»Danke.«
Während Lorna Higgins nach vorn ging, stand Erskine auf, holte einen Stuhl und stellte ihn dicht neben das Bett.
Paul Erskine war ein großer Mann um die 40 mit kräftiger Statur und braunem halblangem Haar. Sein Gesicht wirkte weich, und seine Lippen hätten eher zu einem Frauenmund gepasst. Im Gegensatz dazu wirkten seine Hände sehr kräftig, und er fasste seine Besucherin an der Schulter, um sie zu dem bereitgestellten Stuhl zu dirigieren, auf den sie sich setzte.
Er selbst nahm wieder auf der Bettkante Platz und schlug die Beine lässig übereinander. Er wartete darauf, dass Lorna etwas sagte, doch das tat sie nicht. Sie saß auf dem Stuhl, und aus der Nähe sah sie Erskine besser.
Eigentlich hätte sie beruhigt sein können, doch das war sie nicht. Es gab schon ein gewisses Vertrauen, dass sie Erskine entgegenbrachte, aber sie störte der Geruch, der einfach nicht verschwinden wollte. Noch immer roch es so feucht und modrig. Möglicherweise sogar noch stärker, und sie ärgerte sich jetzt sehr, dass sie nicht so klar sah wie jeder normale Mensch. Es konnte ja sein, dass sich das Monster irgendwo versteckt hielt und Erskine nichts davon ahnte. Der Gedanke daran ließ ihre Angst wieder stärker werden, und auf ihrem Körper entstand eine Gänsehaut. Wäre das Licht im Raum heller gewesen, dann hätte sie möglicherweise etwas erkannt, so aber überwogen die Schatten.
»So, meine Liebe, da ich auch ins Bett möchte, will ich dich bitten, mir so schnell wie möglich zu sagen, weshalb du zu mir gekommen bist. Du weißt, dass ich für Probleme immer ein offenes Ohr habe, aber auch der Zeitpunkt muss stimmen.«
»Das ist mir klar.«
»Wunderbar. Dann sag, was dich hergeführt hat und ob ich dir helfen kann.«
Lorna hätte gern eine schnelle Antwort gegeben, doch damit hatte sie ihre Probleme. Sie suchte nach dem richtigen Anfang und konzentrierte sich auf das Gesicht ihres nahen Gegenübers. Sie sah es etwas klarer, aber leider noch immer leicht verschwommen.
»Ich habe Angst.«
»Hm.«
»Ja, richtige Angst.«
»Vor wem?«
»Vor der Dunkelheit bestimmt nicht, aber in der Dunkelheit der Nacht habe ich ihn gesehen. Ich weiß jetzt, dass es ihn gibt, Mr. Erskine. Ich bin mir sicher.«
Das echte Wort rutschte ihr noch immer nicht heraus. Sie flüsterte etwas von einem Einbrecher und fügte mit lauterer Stimme hinzu: »Aber es ist kein normaler gewesen.«
»Was heißt das denn?«
»Kein Mensch, Mr. Erskine.«
Der Heimleiter musste lachen. »Du bist gut. Sprichst von einem Einbrecher, gehst aber davon aus, dass er kein Mensch gewesen ist. Was ist er denn dann? Ein Tier?«
»Nein. Er ist weder Mensch noch Tier. Er ist... er ist...«, sie holte tief Luft. »Er ist der Nachtschwärmer. Er ist der, von dem hier viele gesprochen haben, verstehen Sie? Ich habe ihn gesehen. Ich habe den gesehen, der so viele Opfer auf dem Gewissen hat. Diesen Schatten in der Nacht. Diese Bestie, der sich die Frauen geholt hat. Die jungen Dinger, verstehen Sie?«
»In der Tat«, antwortete Paul Erskine mit ruhiger
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