Der Nachtschwärmer
Stimme.
Sie war froh über die Antwort und atmete tief durch. Die erste große Hürde hatte sie überstanden, und sie dachte über die weiteren Worte nach, aber Erskine kam ihr zuvor.
Sie spürte seine Hand auf ihrem Knie und hörte dann seine weiche Stimme. »Ich kann ja verstehen, dass du Angst hast und deshalb auch zu mir gekommen bist, um mir im vertrauten Gespräch zu sagen, was dich so beunruhigt hat. Aber denkst du nicht auch, dass du da etwas übertreibst, meine Liebe?«
»Nein, ich übertreibe nicht!«
Erskine lächelte, was Lorna nicht sah. »Ich will dir persönlich nichts, meine Liebe, doch denk mal nach. Alle, die hier im Heim ihren Platz gefunden haben, sind zwar tolle Menschen, die auch der Gesellschaft noch einen Dienst erweisen, indem sie in unserer kleinen Werkstatt arbeiten, aber auf der anderen Seite musst du erkennen, dass auch du eine Behinderung aufzuweisen hast. Du bist zwar nicht völlig blind, doch dein Augenlicht ist stark reduziert. Wie gesagt, ich will dir nichts, aber bei deiner Sehkraft sieht man manchmal Dinge, die es so gar nicht gibt. Deshalb gehe ich davon aus, dass du dich möglicherweise getäuscht hast...«
»Es war der Nachtschwärmer!«, behauptete sie.
»Bitte, Lorna, ich bitte dich.« Er fasste jetzt ihre Hand an, und sie spürte, dass die Finger feucht waren. »So darfst du wirklich nicht denken. Dieser Nachtschwärmer ist eine Erfindung. Es gibt ihn nicht. Die Menschen hier haben sich etwas vorgemacht. Was aus den kleinen Dörfern bis zu uns dringt, das kannst du nicht für bare Münze nehmen. Die Menschen hier machen sich oft etwas vor, denk daran.«
»Ich nicht. Ich habe ihn gesehen, Mr. Erskine. Dabei bleibe ich. Ich kann zwar schlechter sehen, aber manche Dinge erkenne ich doch und kann sie unterscheiden. Das war kein Mensch, den ich gesehen habe, das ist eine Bestie gewesen, dieser Nachtschwärmer. Da wette ich, Mr. Erskine. Er macht mir Angst. Er macht mir sogar große Angst. Dagegen muss man etwas unternehmen.
»Du hast Recht, Lorna. Es hat Tote bei den Klippen gegeben, und die Polizei steht auch vor einem Rätsel, was die verschwundenen Mädchen angeht. Aber von einer Bestie zu sprechen, ist wohl falsch. Wer immer diese Taten zu verantworten hat, ist ein Irrer. Ein Mensch ohne Menschlichkeit. Er ist grausam und skrupellos, und irgendwann wird es der Polizei gelingen, ihm das blutige Handwerk zu legen. Da können wir froh darüber sein, dass uns das Haus hier gut schützt, denn aus unserem Heim hier ist noch niemand verschwunden oder ermordet worden.«
»Ja, Mr. Erskine, das glaube ich Ihnen. Aber Sie müssen auch mir glauben.«
Er seufzte lautstark. »Dann bleibst du bei deiner Meinung, Lorna?«
»Ja, das bleibe ich.«
Diesmal stöhnte er. »Schade, dass ich dich nicht vom Gegenteil überzeugen kann. Aber ich möchte dich fragen, wo du den Nachtschwärmer gesehen hast.«
»Hier, Mr. Erskine.«
»Im Haus?«
»Nein. Im Garten.«
Jetzt war Erskine überrascht. »Du bist im Garten gewesen, Lorna?«
»Bevor ich hierher kam.«
»Das wundert mich allerdings. Du kennst doch die Hausregeln. Du weißt, dass niemand ohne Hilfe das Heim verlassen darf. Es wundert mich, dass du es trotzdem getan hast.«
»Das musste sein.«
»Wegen ihm?«
»Ja.«
»Und wo hast du ihn genau gesehen?« Erskine’s Stimme klang jetzt schärfer. Er musste sich sehr geärgert haben, dass Lorna die Regeln verletzt hatte.
»Ich sagte schon, dass ich ihn im Garten...«
»Ja, ja, das weiß ich. Aber was ist da passiert? Das musst du mir erzählen. Ist er durch den Garten geschlichen, oder was hat er getan?«
»Er konnte fliegen, Mr. Erskine. Ich habe ihn in der Luft gehört. Den Schlag seiner Schwingen oder Flügel. Dann ist er im Garten gelandet.«
»Gut. Und wo ist er jetzt?«
»Ich kann es nicht genau sagen...«
»Du lügst, Lorna.«
Sie senkte den Kopf und empfand Scham darüber, dass Paul Erskine sie erwischt hatte.
»Bitte, sag die Wahrheit!«
»Ja.« Sie nickte. »Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Ich konnte ihn nicht mehr lange nach seiner Landung sehen, denn er verschwand.«
»Siehst du.«
»Nein, Mr. Erskine, nein, so können Sie das nicht sagen, wirklich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich dann hörte, wie er die Hintertür geöffnet hat. Sie geht ja nicht lautlos auf. Man bekommt es mit, wenn man sich stark konzentriert. Da ist es dann passiert. Ich weiß jetzt, dass er hier im Haus verschwunden ist.« Lorna regte sich wieder auf. Die Angst kehrte
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