Der Nachtschwärmer
Treppe hoch. Auf den alten Lift verzichteten sie bewusst, denn Erskine wollte Lorna durch das Haus führen und ihr klar machen, dass es niemanden gab, vor dem sie sich fürchten musste.
Im Haus war es still. Auch mit ihren scharfen Sinnen nahm Lorna keine verdächtigen Geräusche wahr. Die nächtliche Stille war eingekehrt und sie blieb auch.
»Nun, wie geht es dir?«
»Ich bin noch aufgeregt«, flüsterte Lorna.
»Das legt sich wieder. Du gehst jetzt in dein Bett, und du wirst sehen, dass sich deine Nerven wieder beruhigen. Das verspreche ich dir. Diese Erfahrung habe ich auch.« Er schaltete seine Taschenlampe ein, die er mitgenommen hatte.
Der Lichtstrahl fuhr in den Flur hinein, aber er traf kein Ziel, was verdächtig gewesen wäre. Es herrschte die übliche Stille. Da schlich keiner durch das Haus, um sich auf die Suche nach irgendwelchen Opfern zu machen.
Paul Erskine öffnete Lorna die Tür zu ihrem Zimmer und leuchtete auch in den Raum hinein.
Carla lag in ihrem Bett und schlief. Sehr deutlich waren die ruhigen Atemzüge zu hören. Sie bekam nichts mit und hatte auch nichts mitbekommen.
Erskine ging in das Zimmer hinein. Er leuchtete in die Runde und lachte leise. Dann öffnete er das Fenster und schaute nach draußen. »Nein, ich sehe nichts.«
»Das ist gut.«
»Bis du denn jetzt beruhigt?« Erskine zog das Fenster wieder zu.
»Nicht wirklich.«
»Mehr kann ich leider nicht für dich tun. Schlaf erst mal, dann sehen wir weiter. Am nächsten Morgen sehen die Dinge zumeist ganz anders aus. Das ist eine alte Regel, an die sich viele Menschen halten, was ihnen auch gut tut.«
»Vielleicht.«
»Dann sage ich dir gute Nacht.«
»Danke.«
Er ging zur Tür und schaltete erst dort seine Lichtquelle ab. Dann verschwand er leise aus dem spartanisch eingerichteten Zimmer. Lorna und die schlafende Carla blieben allein zurück.
Vor ihrem Bett blieb Lorna stehen und starrte ins Leere. Sie versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen, was nicht einfach war, denn zu viel war passiert und huschte durch ihren Kopf. Sie hatte Paul Erskine nicht überzeugen können und ihre Hoffnung reduzierte sich auf die Person des Bill Conolly.
Auch wenn er den Weg noch nicht bis zum Heim gefunden hatte, sie war fest davon überzeugt, dass er kommen würde, und mit diesem Gedanken legte sie sich in ihr Bett, ohne ihre Turnschuhe auszuziehen.
Lorna dachte auch nicht daran, Carla zu wecken. Sie wollte ihre Zimmergenossin nicht unbedingt in Angst versetzen.
Aufregung, Müdigkeit und auch die Angst vereinigten sich in ihr zu einer Gefühlsmischung. Am liebsten hätte sie das Heim verlassen und wäre hinaus in die Welt der Sehenden gelaufen. Doch ihre Augen waren einfach zu schlecht. Sie hätte sich nicht zurechtgefunden. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als zu bleiben und trotz allem zu hoffen, dass das Schicksal auf ihrer Seite stand.
Irgendwann fielen ihr tatsächlich die Augen zu...
***
HUSCH!
Es war wieder das Geräusch, das Lorna Higgins störte und von dem sie nicht wusste, ob sie es wirklich gehört oder es nur geträumt hatte.
Sie öffnete die Augen!
Es war still im Zimmer. Abgesehen von den leichten Schnarchlauten ihrer Freundin. Sie hatte das Geräusch bestimmt nicht abgegeben. Je mehr Lorna darüber nachdachte, umso stärker wurde ihre Überzeugung, dass sie es nicht geträumt hatte, sondern von ihm aus dem Schlaf geweckt worden war.
Noch blieb sie liegen und wartete darauf, dass sich das unheimliche Geräusch wiederholte.
Nein, da passierte nichts. Es blieb ruhig, doch Lorna war auf keinen Fall zufrieden. Sie fühlte sich hellwach, und sie merkte auch, dass ihr Herz schneller als gewöhnlich schlug. Dabei horchte sie auf ihre innere Stimme, auf die sie sich bisher immer hatte verlassen können, und die sagte ihr, dass sie aufpassen musste.
Lorna setzte sich auf. Im Bett blieb sie hocken. Sie war angespannt, und die Luft zwischen den Wänden kam ihr viel stickiger vor als sonst. Sie bewegte ihren Kopf nach rechts und links.
Ein paar kalte Kugeln rannen über ihren Rücken hinweg. Es waren die Schweißperlen, die ihren Weg vom Nacken nach unten fanden, und der kalte Schweiß hatte sich auch auf ihrer Stirn festgesetzt und dort eine Schicht gebildet.
Lorna hatte sich damit abgefunden, nicht so sehen zu können wie ein normaler Mensch. In diesem Fall aber ärgerte sie sich wahnsinnig darüber, dass sie nur noch ein so schwaches Augenlicht besaß. Sie wollte auch kein Licht machen, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher