Der Nachtschwärmer
Lorna hatte keine Ahnung, denn das Geräusch raubte ihr den Atem. Es zischte gegen ihr Gesicht, als wollte ihr der Nachtschwärmer noch eine Warnung zukommen lasen.
Dann griff er richtig zu.
Eine schnelle Drehung, und sie lag plötzlich auf seinen angewinkelten Armen wie die Braut des Vampirs Dracula. Mit klatschenden Schrittgeräuschen eilte der Nachtschwärmer zum Fenster, wobei er seine Beute festhielt. Er wollte sie haben, er hatte sie, und er wollte sie entführen.
Er duckte sich, stieg in die Fensteröffnung hinein – und stieß sich eine Sekunde später ab...
Ich fliege!, dachte Lorna.
Nein, ich fliege nicht. Jemand fliegt mit mir durch die Nacht. Es ist Wahnsinn, es ist nicht zu glauben. Er hält mich fest, er wird mich nicht loslassen. Ich brauche keine Angst zu haben, dass ich zu Boden falle und mit zerschmetterten Knochen dort liegen bleibe.
Und trotzdem war die Angst da. Auch bedingt durch das Schlagen der Flügel über ihr. Sie sah sie nicht so genau, nur als Schatten, aber sie hörte dieses regelmäßige Husch-Husch , das ihr manchmal vorkam wie das Klatschen von Beifall, als wären irgendwelche Geister dabei, sie zu loben.
Eine Reise in die Nacht. Ein Flug in die Dunkelheit und hinein ins Unbekannte. In irgendeine Welt, die sie nicht kannte. Möglicherweise in das Reich der Toten.
Sie fand sich nicht damit ab, aber sie riss sich zusammen. Sie drehte den Kopf so, dass sie zu Boden schauen konnte.
Er lag unter ihr. Nur fand sie nicht heraus, wie tief er unter ihr lag. Er war da, doch die Dunkelheit verbarg ihn, so dass sie nichts erkennen konnte, nur diese Schwärze, die wie dichter Teer über dem gesamten Boden lag.
Lorna suchte nach Lichtern. Nicht nach den Sternen, sondern nach Lichtem auf dem Boden, aber auch da war sie nicht erfolgreich. Es gab diesen Hoffnungsschimmer nicht. Dafür merkte sie, dass von unten her sich der Geruch wieder verstärkte.
Drückend. Voller Fäulnis und Verwesung...
Kein Friedhof und trotzdem einer. Ein Friedhof, den die Natur erschaffen hatte, und der immer wieder neue Opfer fand und sie dann nie mehr freiließ.
Das Moor!
Plötzlich ließ sich ihre Angst nicht mehr kontrollieren. Sie hatte die Lösung gefunden, und sie wusste jetzt auch, wohin der Nachtschwärmer die verschwundenen Mädchen gebracht hatte.
Einfach ins Moor geworfen. Sie elendig sterben lassen. Und genau dieses Schicksal drohte ihr auch...
***
Jeff Rudin wischte sich innerhalb einer Minute schon zum dritten Mal den Schweiß aus seinem Gesicht und schaute uns dabei an, als wollte er uns fressen oder zum Teufel wünschen. Er war korpulent, hatte einen Stiernacken, rote Haare und ein mit Sommersprossen gefülltes Gesicht, in dem sich der blasse Mund immer wieder verzog.
»Auch wenn Sie mich weiter löchern und auch wenn sie von Scotland Yard sind, ich kann Ihnen nichts sagen. Wir haben unsere Pflicht getan, und das ist es dann gewesen. Ich kann die verschwundenen Frauen ja nicht herbeizaubern.«
»Das verlangt auch keiner von ihnen«, sagte ich.
»Eben.«
»Hat es wirklich keine Spuren gegeben?«
»Nein, nein und nochmals nein!«, rief der Kollege aus St. Austell genervt. »Das hat es nicht. Wir fanden die drei Toten zwischen den Klippen. Das waren junge Männer, die Begleiter der Verschwundenen, mit denen sie die Disco besucht haben und...«
»Kamen Sie immer aus einer Disco?«
»Ja, Mr. Sinclair. Der Entführer muss irgendwo gelauert haben. Er hat sie perfekt in die Falle gelockt, und es ging ihm dabei nur um die jungen Frauen, um sonst nichts. Das alles passierte hier im Juli. Ein verfluchter Sommer, sage ich Ihnen.«
Bill hatte eine Frage. »Was sagen Sie zu diesem Nachtschwärmer?«
Rudin wischte wieder den Schweiß ab. Dabei zog er die Nase hoch. »Was soll ich dazu sagen?«
»Glauben Sie an ihn?«
»Hä, glauben Sie an Gespenster?«
»Manchmal gibt es die.«
Rudin winkte ab. »Ich glaube nicht daran, auch wenn die Kollegen hier oft anderer Meinung sind. Aber ich bin auch nicht von hier und wäre froh, wenn ich wieder in Liverpool sein könnte. Aber nein, man hat mich hierher versetzt. Von wegen ruhiger Job. Eine verdammte Scheiße ist das. Hier laufen Sie als Fremder gegen eine Wand. Die Leute unten in Penare haben nur den Kopf geschüttelt, und wenn ich mal eine Antwort erhielt, dann war sie einfach lächerlich. Fragen Sie doch das Moor, hieß es immer. Aber das Moor schweigt, wurde mir gleichzeitig mitgeteilt. Es sei denn, es gibt seine Beute von allein frei, was hin und
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