Der Nachtschwärmer
Klang der Stimmen behalten, und sie würde immer wieder wissen, wer von den dreien sie ansprach.
»Warum hast du eine so komische und dicke Brille?«, fragte Polly. »Sieht nicht cool aus.«
»Ich bin fast blind.«
»Oh, sorry , das wusste ich nicht.«
»Macht ja nichts.«
»Dann stammst du aus dem Heim?«, fragte Wendy.
»Ja. Ich habe den Nachtschwärmer dort gesehen. Er ist gekommen und hat mich entführt. Ich weiß nicht genau, wo ich bin, aber ich rieche den Sumpf. Stimmt das?«
»Ja, Lorna, das stimmt«, erklärte Mary Kane. »Du steckst mitten im Sumpf. Wir sind Leidensgenossinnen.«
»Dabei ist es sogar unwichtig, ob man blind ist oder sehen kann. Auch wir kommen hier nicht weg«, sagte Wendy Baxter. »Wenn wir die Insel verlassen wollen, verschlingt uns der Sumpf. Und ein Boot hat man uns leider nicht gelassen.«
»Das ist ja grauenhaft.«
»Du sagst es.«
Durch Lorna’s Kopf bewegten sich fieberhaft die Gedanken. »Wenn das so ist und wenn ich euch zuhöre, dann kommt mir einfach der Gedanke, dass ihr die drei Verschwundenen seid, nach denen die Polizei gesucht hat und noch immer sucht.«
»Treffer!«
Lorna wollte es nicht, aber sie musste einfach lachen, und sie schlug dabei die Hände vors Gesicht. Es dauerte nicht lange, dann hatte sie sich wieder gefangen. »Wisst ihr eigentlich, was die Polizei alles in Bewegung gesetzt hat? Könnt ihr euch das vorstellen? Man hat euch gesucht, aber man hat euch nicht gefunden. Dafür wurden andere gefunden. Drei zerschmetterte Körper in den Klippen. Ihr... ihr... könnt euch denken, wer das...«
»Unsere Freunde«, sagte Polly
»Genau.«
»Und woher weißt du das alles?«
»So etwas spricht sich herum. Wir Blinden können zwar nicht sehen, aber gut hören, und auf unser Gehör haben wir uns schon verlassen. Gerüchte durchdringen auch Mauern. Auch wir haben eure Angst spüren können. Es war schrecklich.«
»Kann ich mir denken.«
Die Gefangenen beratschlagten. Sie sprachen leise, aber Lorna hörte trotzdem die Verzweiflung hervor, die in ihren Stimmen mitklang. Sie hatten sich mit ihrem Schicksal irgendwie abgefunden, aber wie sah dieses Schicksal oder die Zukunft aus?
Die Frage konnte Lorna nicht zurückhalten. »Was soll denn noch geschehen? Euch hat doch auch der Nachtschwärmer geholt. Und was hat er mit euch vor?«
»Er will uns.«
»Wofür? Töten?«
»Nein, als seine Bräute. Wir werden für ihn da sein müssen. Ihm zu Willen sein. Er ist Mensch und Bestie. Tagsüber Mensch, in der Nacht erscheint er als Bestie.«
»Ach. Ihr habt ihn auch am Tag gesehen?«, flüsterte Lorna.
»Ja.«
»Kennt ihr seinen Namen? Wie sieht er aus?«
Polly Taylor beschrieb ihn. Sie brauchte keine drei Sätze zu sagen, da wusste Lorna bereits Bescheid.
»Es ist Paul Erskine«, sagte sie.
»Ja, du kennst ihn?«
Lorna nickte nur, schwieg ansonsten. Sie war nicht mal überrascht, das zu erfahren. Sie hatte sich Ähnliches schon gedacht. Da brauchte sie nur an den strengen Geruch zu denken, der ihr zuerst im Garten und wenig später im Zimmer aufgefallen war. Außer ihr war ja nur Erskine anwesend gewesen, und sie strömte den Geruch nicht aus. Er hatte ihn hier aus dem Sumpf mitgebracht.
»Erskine ist der Leiter des Heims«, sagte sie leise.
»Das wissen wir mittlerweile auch«, flüsterte Mary Kane. »Und du bist jetzt seine vierte Braut.«
Damit musste Lorna zunächst fertig werden. Sie stemmte sich zwar dagegen an, aber sie fand dabei keinen optimistischen Ausweg. Ein Entkommen aus dem Sumpf gab es nicht. Sie musste sich fügen, und das würde sie auch tun.
»Wir lassen dich jetzt allein. Wenn du etwas willst oder brauchst, kannst du ja schreien.«
»Danke.«
»Bis später.«
Die drei Gefangenen entfernten sich, und Lorna blieb allein zurück. Sie lehnte sich gegen die weiche Wand im Rücken und spürte die Müdigkeit, aber zugleich auch die Angst, die in ihr steckte und dafür sorgte, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Dass das Schicksal ihrem Leben eine derartige Wendung geben würde, hätte sie nie gedacht. Sie war jetzt zur Braut eines fliegenden Ungeheuers geworden. Die Geliebte einer Bestie, die mit ihr anstellen konnte, was sie wollte. Eine Gegenwehr gab es nicht. Und irgendwann würde sie in Vergessenheit geraten wie auch die drei anderen Gefangenen.
Mit dieser Vorstellung zu leben fiel ihr alles andere als leicht. Aber es gab kein Zurück. Sie musste tun, was die andere Seite von ihr verlangte.
Die Sehbehinderung hatte sie hart
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