Der Nachtschwärmer
Sumpf?«
»Einiges. Er ist das perfekte Versteck. Dort kann man jemanden gefangen halten und auch verschwinden lassen. Wer sich auskennt, der ist der König, Bill.«
»Was man von uns ja nicht sagen kann.«
»Aber wir können ihn kennen lernen.«
Er hob die Augenbrauen. »Du willst in den Sumpf?«
»Soweit es möglich ist. Ich rechne auch damit, dass unser Freund reagiert. Er muss einfach etwas tun. Unsere Fragen haben ihn aufgescheucht. Ich denke, dass er das Heim bald verlassen wird.«
»Sollen wir so lange warten?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ich winkte ab. »Wenn er uns finden will, dann wird er uns finden. Aber nicht mehr hier. Wir werden uns einen Weg in den Sumpf suchen. Das ist nicht besonders schwer. Ich habe auf der Herfahrt einige Abzweigungen gesehen, die in das Gelände hineinführen, und genau da werden wir anfangen.«
»Ich freue mich schon«, sagte Bill.
»Worauf?«
»Auf die Nacht im Sumpf...«
***
Zeit! Was war schon Zeit?
Lorna Higgins kannte sich nicht aus. Nicht mehr. Sie hatte das Zeitgefühl verloren, und auch die Erinnerung an ihren ungewöhnlichen Flug in der Gewalt des Nachtschwärmers war verblasst. Irgendwo auf dem Weg hatte sie das Gefühl gehabt, als hätte ihr der Flugwind das Gehirn leer gepustet, und sie war erst wieder zu sich gekommen, als sie festen und unbekannten Boden unter den Füßen spürte.
Es war eine fremde Welt für sie. Auch ein Mensch mit normaler Sehkraft hätte hier nicht viel erkennen können, denn diese Umgebung war eingetaucht in eine schwammige Dunkelheit, bei der sich Lorna auf Gerüche verlassen musste.
Und die waren anders als im Heim und dessen Garten. Viel deutlicher, viel strenger und intensiver. Sie umgaben sie wie eine unsichtbare Haube, und wenn sie einen Sammelbegriff dafür finden sollte, dann lautete er nur: Natur!
Ja, es war die Natur, die sie umgab. Und es war eine Natur, die allmählich vor sich hinsiechte. Die im Sterben lag, die ihren letzten fauligen Atem abgab, um sich dann endgültig zur Ruhe zu legen.
Sterbende Natur gleich Sumpf!
Lorna wusste nicht mal, ob sie Angst haben sollte. Dieser Sumpf war etwas Besonderes auf der einen und etwas Menschenfeindliches auf der anderen Seite. Wer von ihm gefangen wurde, für den gab es keine Chance mehr für eine Rückkehr, und von einer Gefangenschaft musste sie einfach ausgehen.
Aber die erste Panik verging schnell, als Lorna merkte, dass sie nicht an einer Stelle stand, die so weich war, dass sie in die Tiefe gezogen wurde. Sie spürte unter ihren Füßen noch immer den festen Boden, und das gab ihr wieder den kleinen Schimmer der Hoffnung zurück. Da konnte sie durchatmen und sich sogar ein wenig freuen, denn sie war es gewohnt, sich auch über Kleinigkeiten zu freuen, die ihr immer einen optimistischen Schub gaben.
So auch hier.
Sie sank nicht ein, man hatte sie nur irgendwohin geschafft. Und weil dies so war, ging sie davon aus, dass man sie nicht töten wollte und sie noch gebraucht wurde.
Gebraucht für wen?
Da gab es nur eine Lösung. Der Nachtschwärmer wollte etwas von ihr. Er hatte sie entführt, in den dunklen Sumpf geschafft und auf irgendeine relativ trockene Insel gestellt.
Und da blieb sie auch.
Zeit war vergangen. Viel Zeit. Sie hatte sich etwas weiter getastet und eine kleine Mulde gefunden, die von einem knorrigen Gewächs geschützt war. Hier hatte sich Lorna niedergelassen und abgewartet, zusammengeduckt wie ein Lebewesen, dass darauf wartet, geholt zu werden.
Der Nachtschwärmer war nicht erschienen. Dafür hatte sie irgendwann Flüsterstimmen vernommen. Eine Botschaft in der Nacht. Keine der üblichen leicht unheimlichen Geräusche, die sie kannte, sondern menschliche Stimmen, und auch Stimmen, die jungen Frauen oder Mädchen gehörten, wie sie am Klang erkannte.
Sie hörte auch Schritte.
Verängstigt blieb sie hocken, bis die Schritte verstummten und sie direkt angesprochen wurde.
»He, da ist sie.«
»Ja. Du hast dich nicht getäuscht.«
»Kennst du sie?«
Lorna hatte genau aufgepasst und festgestellt, dass drei verschiedene Stimmen gesprochen hatten. Demnach gab es noch drei weitere Gefangene in diesem verdammten Sumpf.
»He, wer bist du?«
»Lorna.«
»Sonst nichts?«
»Lorna Higgins.«
»Okay, ich bin Mary Kane.«
»Gut.«
»Und ich heiße Wendy Baxter«, sagte die zweite Stimme.
Jetzt fehlte nur noch die dritte, und auch die meldete sich. »Ich heiße Polly Taylor.«
»Ich kenne euch nicht.« Lorna war ehrlich, aber sie hatte den
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