Der Nachtzirkus
ist schrecklich stur«, flüstert sie. »Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt es für ihn kein Nein.«
Und tatsächlich verfrachten sie Bailey, kaum dass sie aus dem Zug steigen, in ihre Kutsche. Bei ihrer Ankunft im Hotel wird seine Tasche zusammen mit Elizabeths Gepäck hineingetragen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragt Lorena, als er sich staunend in dem prächtigen Foyer umsieht.
»Ich komme mir vor wie eins von diesen Mädchen aus dem Märchen, wie die, die nicht mal Schuhe hat und dann doch zum Tanzball ins Schloss kommt«, flüstert Bailey, und sie lacht so laut, dass mehrere Leute sich umdrehen und sie anstarren.
Bailey wird zu einem Zimmer geführt, das halb so groß ist wie sein ganzes Haus, stellt dann aber fest, dass er trotz der schweren Vorhänge, die das Sonnenlicht ausschließen, nicht schlafen kann. Er geht auf und ab, bis er irgendwann befürchtet, er könnte den Teppich beschädigen, deshalb setzt er sich ins Fenster und beobachtet die Menschen unten.
Er ist erleichtert, als es am Nachmittag klopft.
»Wissen Sie schon, wo der Zirkus ist?«, fragt er, bevor Victor etwas sagen kann.
»Noch nicht, mein Junge«, antwortet er. »Manchmal werden wir über die nächste Station im Voraus informiert, aber in letzter Zeit nicht. Ich gehe davon aus, dass wir in ein paar Stunden Nachricht erhalten, und wenn unser Glück anhält, fahren wir morgen in aller Frühe ab. Hast du einen Anzug?«
»Nicht dabei«, sagt Bailey und muss an den Anzug denken, der zu Hause in einer Truhe liegt und immer nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde. In der Zwischenzeit ist er wahrscheinlich zu klein, Bailey kann sich allerdings auch nicht mehr an den letzten anzugwürdigen Anlass erinnern.
»Dann werden wir dir einen besorgen«, sagt Victor, als wäre das die einfachste Sache der Welt.
Sie treffen Lorena in der Eingangshalle, und die beiden schleppen ihn durch die Stadt, erledigen dies und das und machen auch bei einem Schneider für seinen Anzug halt.
»Nein, nein«, sagt Lorena, als sie die Auswahl durchsehen. »Die passen farblich gar nicht zu ihm. Er braucht einen grauen. Einen schönen dunkelgrauen.«
Nach aufwendigem Abstecken und Maßnehmen bekommt Bailey einen Anzug in Anthrazitgrau, der schöner ist als alle, die er in seinem Leben je besessen hat, schöner sogar als der beste Anzug seines Vaters. Trotz seiner Einwände kauft Victor ihm außerdem noch sehr glänzende Schuhe und einen neuen Hut.
Sein Spiegelbild sieht ihm so unähnlich, dass Bailey sich kaum wiedererkennt und sich ernsthaft fragt, ob das wirklich er ist.
Als sie beladen mit Päckchen ins Parker House zurückkehren und auf ihre Zimmer gehen, bleibt ihnen kaum Zeit für eine kurze Pause, denn schon bald kommt Elizabeth und will mit ihnen zum Essen gehen.
Zu Baileys Erstaunen warten unten im Restaurant bereits ein Dutzend rêveurs , von denen einige dem Zirkus nachreisen und andere in Boston bleiben werden. Seine Befangenheit beim Anblick des feinen Restaurants legt sich angesichts der lockeren, ausgelassenen Stimmung der Gruppe. Wie nicht anders zu erwarten, sind alle fast ausschließlich in Schwarz und Weiß und Grau gekleidet, nur die Krawatten und Taschentücher setzen leuchtend rote Punkte.
Als Lorena sieht, dass Bailey nichts Rotes trägt, stibitzt sie eine Rose aus einem Blumenstrauß und steckt sie ihm ans Revers.
Bei jedem Gang werden endlose Geschichten aus dem Zirkus erzählt; Zelte werden erwähnt, die Bailey völlig unbekannt sind, und Länder, von denen er noch nie gehört hat. Bailey beschränkt sich weitgehend aufs Zuhören und staunt immer noch, dass er einer Gruppe von Menschen über den Weg gelaufen ist, die den Zirkus ebenso liebt wie er.
»Haben … haben Sie den Eindruck, dass mit dem Zirkus irgendetwas nicht in Ordnung ist?«, fragt Bailey leise, als sich am Tisch verschiedene Gesprächsrunden gefunden haben. »In letzter Zeit, meine ich?«
Victor und Lorena sehen einander an, als wollten sie abwägen, wer antworten soll, doch Elizabeth kommt ihnen zuvor.
»Seit Herrn Thiessens Tod ist der Zirkus nicht mehr wie früher«, sagt sie. Victor runzelt plötzlich die Stirn, während Lorena zustimmend nickt.
»Wer ist Herr Thiessen?«, fragt Bailey. Leicht verwundert über seine Ahnungslosigkeit sehen die drei sich an.
»Friedrick Thiessen war der erste rêveur «, sagt Elizabeth. »Er war ein Uhrmacher. Von ihm stammt die Uhr am Tor.«
»Diese Uhr hat jemand gemacht, der nicht zum Zirkus gehört? Ist
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