Der Nachtzirkus
verändert sich erneut und wird zu einem leeren Ballsaal, durch dessen Fenster das Mondlicht fällt.
»Und ich wusste es in diesem Moment«, sagt Celia mit Flüsterstimme, die leise durch den Raum hallt.
Marco tritt auf sie zu und küsst ihre Tränen weg, dann sucht er ihren Mund.
Als er sie küsst, erglüht das Feuer stärker. Jede Drehung der Akrobaten ist perfekt ausgeleuchtet. Der ganze Zirkus funkelt und blendet sämtliche Besucher.
Und dann fällt alles auseinander, als Celia sich widerstrebend löst.
»Es tut mir leid«, sagt sie.
»Bitte.« Marco will sie nicht gehen lassen, hält sich am Spitzenbesatz ihres Kleides fest. »Bitte geh nicht wieder weg.«
»Es ist zu spät«, sagt sie. »Es war schon zu spät, als ich nach London kam und dein Notizbuch in eine Taube verwandelt habe, schon damals waren zu viele Leute beteiligt. Was wir beide tun, wirkt sich auf jeden hier aus, auf jeden Besucher, der durch das Tor tritt. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen. Alles Fliegen in einem Spinnennetz, das gesponnen wurde, als ich sechs war, und jetzt bin ich fast starr vor Angst, noch jemanden zu verlieren.«
Sie blickt zu ihm auf, hebt die Hand und streichelt seine Wange.
»Willst du etwas für mich tun?«, fragt sie.
»Alles«, antwortet Marco.
»Komm nicht mehr wieder«, sagt sie mit brüchiger Stimme.
Noch ehe Marco protestieren kann, verschwindet sie so schlicht und elegant wie am Ende ihrer Vorstellung, ihr Kleid verblasst unter seinen Händen. Nur ihr Parfüm schwebt noch in dem Raum, wo sie bis vor wenigen Sekunden stand.
Marco ist allein in einem Zelt mit zwei Stuhlkreisen und einer offenen Tür, die wartet, dass er hindurchschreitet.
Bevor er geht, zieht er eine Spielkarte aus seiner Tasche und legt sie auf Celias Stuhl.
Besuche
SEPTEMBER 1902
C elia Bowen sitzt umgeben von Büchern an einem Schreibtisch. Schon vor einiger Zeit ist ihre Bibliothek zu klein geworden, doch statt den Raum zu vergrößern, hat sie sich entschieden, die Bücher zum Raum zu machen. Übereinandergestapelt dienen sie als Tische, andere hängen neben großen goldenen Käfigen mit mehreren lebenden Tauben darin von der Decke.
Ein weiterer runder Käfig, der auf einem Tisch steht, enthält eine raffinierte Uhr. Sie zeigt die Zeit und die Sternenbewegung an und tickt sich stetig durch den Nachmittag.
Ein großer schwarzer Rabe schläft neben den gesammelten Werken von Shakespeare.
Wild zusammengewürfelte Kerzen in silbernen dreiarmigen Kandelabern umgeben den Schreibtisch in der Mitte des Raums. Auf dem Tisch selbst befinden sich eine langsam kalt werdende Tasse Tee, ein Schal, teilweise aufgetrennt zu einem Knäuel scharlachroter Wolle, die gerahmte Fotografie eines verstorbenen Uhrmachers, eine seit langem von ihrem Satz getrennte Spielkarte und ein aufgeschlagenes Buch mit Zeichen, Symbolen und Unterschriften, die von anderen Blättern entfernt wurden.
Celia sitzt mit Notizbuch und Stift da und bemüht sich, das System zu enträtseln, in dem das Buch geschrieben ist.
Sie versucht so zu denken wie Marco beim Verfassen des Textes und stellt sich vor, wie er jede Seite beschrieben und die filigranen tintenschwarzen Baumäste gezeichnet hat, die sich durch das gesamte Buch ziehen.
Immer wieder liest sie die Unterschriften und überprüft, wie sicher jede Haarlocke festgeklebt wurde, untersucht jedes Symbol.
Sie hat das alles schon so oft getan, dass sie das Buch auswendig wiedergeben könnte, und trotzdem begreift sie das System noch nicht ganz.
Der Rabe sträubt die Federn und krächzt etwas im Halbdunkel an.
»Du störst Huginn«, sagt Celia, ohne aufzublicken.
Das Kerzenlicht erfasst nur die Konturen ihres Vaters, der in der Nähe steht, hebt die Falten seiner Jacke und seinen Hemdkragen hervor und schimmert in seinen dunklen Augenhöhlen.
»Du solltest dir wirklich noch einen besorgen«, sagt er und späht zu dem verstörten Raben hin. »Einen Muninn, damit sie komplett sind.«
»Ich halte es eher mit Gedanken als mit Erinnerungen, Papa«, sagt Celia.
Als Antwort kommt nur ein »Hrmph«.
Celia ignoriert ihn, als er sich über ihre Schulter beugt und ihr beim Durchblättern der beschriebenen Seiten zusieht.
»Das ist ein gotterbärmliches Durcheinander«, sagt er.
»Eine Sprache, die du nicht beherrschst, muss nicht unbedingt ein gotterbärmliches Durcheinander sein«, erwidert Celia und überträgt eine Abfolge von Symbolen in ihr Notizbuch.
»Das ist heilloses Wirrwarr, Bindungszauber und
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