Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
Vom Netzwerk:
dass Marco ihn gerufen hat. Mit den Händen auf dem Gehstock steht er draußen im Flur vor der Tür und wartet, was Marco zu sagen hat.
    »Sie glaubt, einer von uns muss sterben, damit das Spiel zu Ende ist«, sagt Marco.
    »Sie hat recht.«
    Die Vermutung bestätigt zu bekommen ist schlimmer, als Marco erwartet hatte. Die schwache Hoffnung, dass Celia sich irren könnte, ist durch diese drei schlichten Wörter zunichte gemacht.
    »Gewinnen wäre schlimmer als verlieren«, sagt er.
    »Hatte ich dir nicht gesagt, deine Gefühle für Miss Bowen würden dir die Herausforderung nur erschweren?«, entgegnet sein Lehrmeister.
    »Warum tust du mir das eigentlich an?«, fragt Marco. »Warum hast du mich dafür jahrelang unterrichtet?«
    Die Pause vor der Antwort wiegt schwer.
    »Ich hielt es immer noch für besser als das Leben, das du sonst geführt hättest, ungeachtet der möglichen Folgen.«
    Marco schließt und verriegelt die Tür.
    Der Mann im grauen Anzug hebt die Hand, um erneut zu klopfen, überlegt es sich dann aber anders und geht.

CHARMANT, ABER TÖDLICH

    Du folgst dem Klang einer Flöte in einen versteckten Winkel, die hypnotische Melodie lockt dich immer näher.
    Auf dem Boden, versteckt in einer Nische, sitzen zwei Frauen auf gestreiften Seidenkissen. Eine spielt die Flöte, die du gehört hast. Zwischen ihnen steht eine glühende Weihrauchspirale neben einem großen Korb mit schwarzem Deckel.
    Langsam versammelt sich eine kleine Zuschauermenge. Die andere Frau hebt vorsichtig den Deckel vom Korb und greift ihrerseits zu einer Flöte, auf der sie die Gegenmelodie zur ersten spielt.
    Zwei weiße Kobras schlingen sich umeinander, während sie in vollkommenem Einklang zur Musik aus dem geflochtenen Korb emporsteigen. Einen Augenblick lang sehen sie aus wie eine Schlange und nicht zwei, doch dann trennen sie sich wieder, winden sich an den Korbseiten nach unten und gleiten ganz nah an deinen Füßen auf den Boden.
    Die Schlangen bewegen sich gemeinsam vor und zurück wie bei einem höfischen Tanz. Elegant und anmutig.
    Die Musik wird schneller, die Schlangen gebärden sich jetzt heftiger, kampflustiger. Der Walzer wird zu einem Wettstreit. Sie umkreisen einander, und du wartest darauf, dass eine der beiden angreift.
    Eine zischt leise, die andere reagiert entsprechend. Sie umkreisen sich unentwegt, während die Musik und der Weihrauch in den sternenklaren Himmel emporsteigen.
    Du weißt nicht, welche Schlange als Erste zuschlägt, schließlich sehen beide gleich aus. Doch als sie sich aufbäumen und zischend aufeinander losgehen, fällt dir plötzlich auf, dass sie beide nicht mehr schneeweiß sind, sondern wunderschön ebenholzschwarz.

Vorausahnung
    UNTERWEGS VON BOSTON NACH NEW YORK,
31 . OKTOBER 1902
    D ie meisten Passagiere haben es sich in ihren Waggons oder Abteilen gemütlich gemacht und verbringen die Reise lesend, schlafend oder sie vertreiben sich die Zeit anderweitig. Die Gänge, auf denen es bei der Abfahrt von Menschen wimmelte, sind jetzt, als Poppet und Widget sich leise wie Katzen von Waggon zu Waggon schleichen, nahezu leer.
    An allen Abteiltüren hängen Schildchen mit handgeschriebenen Namen. Bei dem mit der Aufschrift »C. Bowen« bleiben
sie stehen, und Widget klopft behutsam an die Milchglasscheibe.
    »Herein«, ruft eine Stimme von innen, worauf Poppet die Tür aufschiebt.
    »Stören wir gerade?«, fragt sie.
    »Nein«, antwortet Celia. »Kommt ruhig rein.« Sie schließt das mit Symbolen gefüllte Buch, in dem sie gelesen hat, und legt es auf den Tisch. Das ganze Abteil sieht aus wie eine Bibliothek, in der eine Explosion stattgefunden hat – Bücherstapel und Papierhaufen zwischen samtbezogenen Bänken und glänzenden Holztischen. Das Licht tanzt mit dem Schaukeln des Zugs und spiegelt sich in den Kristalllüstern.
    Widget schiebt die Tür hinter sich zu und verriegelt sie.
    »Möchtet ihr vielleicht einen Tee?«, fragt Celia.
    »Nein, danke«, sagt Poppet und schaut nervös zu Widget, der nur nickt.
    Celia mustert die beiden. Poppet beißt sich auf die Lippen und meidet Celias Blick, Widget lehnt an der Tür.
    »Heraus damit«, sagt sie.
    »Wir …«, setzt Poppet an. »Wir haben ein Problem.«
    »Und was für eins?« Celia räumt Bücherstapel beiseite, damit die Zwillinge sich auf die violetten Bänke setzen können, aber sie bleiben, wo sie sind.
    »Ich glaube, es sollte etwas passieren, das dann doch nicht passiert ist«, sagt Poppet.
    »Und was wäre das?«, fragt

Weitere Kostenlose Bücher