Der Name Der Dunkelheit
Prozedur wiederholte Fidel noch zwei Mal.
»Du schaust also genau hin«, sagte Kjell.
Fors nickte. »Ich schaue ihm immer zu. Im Sommer muss ich besonders achtgeben. Es erzürnt die Badegäste natürlich, wenn sie nackt auf der Wiese liegen und von einem Hund wachgeleckt werden.«
»Dann bist du also ganz sicher, dass die Frau am Morgen noch nicht da saß?«
»Natürlich.«
»Bist du dir wirklich sicher?«
»Ja. Es wäre ja auch nicht wahrscheinlich.«
»Deshalb frage ich so eindringlich. Hast du es gesehen? Oder hältst du es für wahrscheinlich?«
»Ich habe es gesehen. Daran besteht kein Zweifel. Ich lasse Fidel keine Sekunde aus den Augen, wenn er am Wasser ist.«
»Gut, haken wir die Morgenrunde ab. Am Mittag war sie da?«
»Ja. Wir sind erst nach den Nachmittagsnachrichten los. Also muss ich diese Stelle hier zwischen Viertel nach drei und halb vier erreicht haben.«
Und da waren der Sonnenschirm und der Liegestuhl am Strand gewesen. Von hier oben hatte Fors nur die Füße unter dem Schirm herausragen sehen und nicht gewusst, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörten.
»Der Liegestuhl hätte mir eingeleuchtet, nicht jedoch der Sonnenschirm. Die Sonne ging doch schon unter.«
Das war in der Tat irritierend. Fidel hatte sich von dem sonderbaren Arrangement nicht irritieren lassen. Fors’ dritter und letzter Spaziergang fand um kurz vor fünf statt. Er hatte ihn
vorgezogen, als der Schnee zu fallen begann, um früher losfahren zu können.
»Das gleiche Spiel«, erzählte Fors. »Da habe ich mich schon gewundert, dass sich die Gestalt wieder nicht rührte. Sie saß immer noch da. Aber ich wollte nicht wie ein Förster zu ihr hingehen und fragen, was da los ist.«
Erst viel später im Auto hatte Fors sich ernsthaft gewundert, warum die Person sich nicht gerührt hatte, selbst als Fidel nahe an ihr vorbei durchs Wasser trabte. Nachdem Fors und Fidel von der Nachmittagsrunde heimgeeilt waren, stiegen sie sofort ins Auto und fuhren los.
»Da ging der Sturm richtig los. Es gab einen Stau auf der Brücke, und ich habe von dort oben einen Blick zurückgeworfen. Da war unten alles neblig, aber den Schirm hat man noch gesehen.«
6
Henning spazierte geradewegs zu dem Doppelregal, dessen Bretter sich unter der Last der Bücher durchbogen. Ganz unten gab es drei Ordner.
»Ich habe, was ich brauche«, sagte Henning und ließ sich mit den Ordnern auf dem Sofa nieder.
Snæfríður stand unschlüssig im Raum. »Hast du irgendwo etwas entdeckt, das wie ein Abschiedsbrief aussieht?«
»Danach brauchst du gar nicht zu suchen.«
»Aha. Was soll ich dann tun?«
Henning blickte auf. »Dort steht eine Stereoanlage. Mach sie mal an.«
Sie tat es zögernd, weil sie nicht verstand, was Henning damit beabsichtigte. Aber Henning hatte während seiner Zeit in der Maria-Wache jahrelang die Selbstmorde auf den Schreibtisch
bekommen und kannte bestimmt jede Abkürzung. Snæfríður hatte seit einer Ewigkeit keine Stereoanlage von dieser Größe mehr gesehen, zuletzt in ihrer Jugend. Nach dem Einschalten tat sich nichts.
»Die Tonquelle ist auf CD gestellt. Soll ich auf Play drücken?«
Henning brummte. Er hatte sich über den ersten Ordner hergemacht, doch die einsetzende Musik riss ihn aus seiner Versenkung. Das Lied war alt und begann mit tiefen Klavierklängen, nach einigen Takten setzte ein Xylophon ein. Snæfríður stürzte zur Stereoanlage und drehte an den Knöpfen, bis es leiser wurde.
»Der stand auf zehn! Entschuldigung, darauf habe ich nicht geachtet.«
»Dreh wieder auf!«
Streicher kamen hinzu, und schließlich der Gesang. »Ich will dich! Und niemals darfst du mich verlassen!«, sang eine altmodisch klare Frauenstimme.
Snæfríður starrte Henning an. Henning starrte die Stereoanlage an.
Ich will dich! Mein ganzes Herz gebe ich dir!
»Das kenne ich!«, rief Henning gegen die Musik an. Sein Blick war ernst. »Eine Schlagersängerin. Als ich jung war. Wie hieß die noch?«
»Wann warst du jung?«
»Irgendwann in den Sechzigern.« Henning schnippte so lange mit den Fingern zum Takt der Musik, bis ihm der Name einfiel. »Marianne Kock!«
Nun bin ich es, die gibt. Kann nicht mehr warten. Komm her! Ich hab dir schon angesehen, dass du mich liebst.
Snæfríður floh vor Marianne Kock ins Schlafzimmer und kehrte kurz darauf zurück. »Noch mehr Bücher!«, schrie sie, denn die Melodie wurde immer dramatischer, und die Stimme
von Marianne Kock auch. »Einiges auf Englisch, aber nicht viel.«
Sie
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