Der Name Der Dunkelheit
nicht bald aus dem Aufzug steigst, ist Weihnachten vorüber.«
Kjell räumte den Aufzug.
»Es ist hoffentlich nichts Großes?«
»Nur ein Selbstmord.«
»Lass uns im neuen Jahr essen gehen.«
Kjell winkte zum Abschied. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging er zu seinem Büro. Nichts Großes. Was meinte sie damit? Doch wohl nicht etwa, dass sie sich in Zukunft in alles einmischen wollte?
Er betrachtete seinen bedenklich aufgeräumten Schreibtisch. Während seiner einjährigen Papateilzeit, bei der er nur drei Nachmittage in der Woche gearbeitet hatte und alle Entschlusskraft an Henning Larsson übergegangen war, hatte er nicht viel Gelegenheit bekommen, Sofi Johanssons Ordnungsliebe zu durchkreuzen. Seit drei Jahren teilte er sein Zimmer mit ihr, dennoch konnte er immer noch über den blauen Lappen lächeln, den sie nach dem Morgenputz zum Trocknen über die Heizung hängte. Sonderbar, dachte er, die chaotischsten Gemüter haben immer die ordentlichsten Schreibtische.
Mit ausgestrecktem Arm erreichte er ein Blatt Papier und überflog es. Henning hatte sich eine Agenda für Suizidfälle aus den Dienstvorschriften kopiert und die einzelnen Aufgaben mit den Namen der vier Mitglieder der Reichsmord beschriftet. Die Wohnung übernahmen Henning und Snæfríður, und Sofi erledigte seit einigen Stunden eine Reihe kleinerer Aufgaben. Eigentlich gab es noch ein fünftes Mitglied, aber Barbro Setterlind hatte rechtzeitig Urlaub genommen und tauchte nicht in der Liste auf. Sie am ersten Weihnachtstag anzurufen, hätte nur weitere Kapitalverbrechen heraufbeschworen.
Die Agenda für Suizidfälle endete mit einem Merksatz: Selbstmord ist ein Tötungsdelikt, bei dem Täter und Opfer identisch sind. Die Täterschaft ist nachgewiesen, wenn sich in der Voruntersuchung keine Hinweise auf andere Verdächtige ergeben.
Spitzfindiger konnte man nicht formulieren. Kjell setzte ein Häkchen hinter seinen Namen: Befragung von Augenzeugen abgeschlossen. Das hatte auch Sofi bei ihrer ersten Aufgabe schon getan. Ihre Ergebnisse lagen auf dem Schreibtisch. An der Fotokopie eines Zeitungsausschnitts klebte einer ihrer grünen Zettel, mit denen sie ihr ganzes Leben etikettierte: ›DL abgeschlossen. Sonst null Treffer! Bitte nichts unordentlich machen. Habe aufgeräumt. Bitte!‹
DL, das stand für ›digitales Leben‹. Die Menschen verbrachten ihr ganzes Leben im Internet, nur ermorden lassen wollten sie sich ausgerechnet in der Realität, für die Kjell Cederström zuständig war. Sofi hatte ihre Suche bereits abgeschlossen und war zum Glück auf keine virtuelle Zweitexistenz von Elin Gustafsson gestoßen, so dass sie sich zumindest nicht mit solchen Albernheiten herumschlagen mussten. Kjell zog den Zettel von dem Papier. Es war eine Fotokopie von einem Artikel im Svenska Dagbladet vom 27. Oktober. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, brachten die Tageszeitungen am Tag der Hochschulaufnahmeprüfung einen Artikel, in dem immer dasselbe stand: Wie viele diesmal teilnahmen, was man können musste, und vor allem, welche Gegenstände man nicht zu Hause vergessen dürfe. Obwohl man nur einen einzigen Gegenstand benötigte, nämlich einen gespitzten Bleistift, schienen einige nach wochenlangem Lernen genau den zu vergessen. Der Reporter hatte einen findigen Einwanderer aus Marokko interviewt, dem eine sensationelle Geschäftsidee eingefallen war. An einem Tag im Frühling und dann noch einmal im Herbst stand er morgens mit einem Bauchladen voll gespitzter Bleistifte vor dem größten Gymnasium Stockholms. Den Rest des Jahres habe er frei, und ja, sein Beruf bereite ihm viel Freude.
Meist gab es immer noch ein Interview mit dem Prüfungsbesten vom letzten Mal. Das war grundsätzlich eine Frau, die aus einer Kleinstadt wie Nyköping kam und Empfehlungen gab, wie man es zur Höchstnote 2,0 bringen konnte. Zum Beispiel: In der einstündigen Mittagspause bloß nichts Schweres essen. Doch diesmal hatte der Reporter einen interessanteren Menschen aufgespürt: Elin Gustafsson aus Stockholm nahm zum achten Mal an der Prüfung teil. Am Bleistift lag es allerdings nicht. Sie komme mit den Kästchen nicht zurecht, die man ankreuzen musste, berichtete sie. Elin wollte an der Technischen
Hochschule Civilingenieur studieren, scheiterte jedoch immer am Prüfungsteil ›Sprachverständnis‹. Obwohl sie viel lese, wisse sie während der Prüfung nicht, welches der fünf Synonyme zu ›nonchalant‹ das richtige sei. Anscheinend stand Elin mit ihrem
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