Der Name Der Dunkelheit
noch kontrollieren konnte, und räusperte sich. »Es ist immerhin ein Klassiker. Die Geburtsstunde des modernen Romans, sagen viele.«
»Zugleich ein wichtiger Jahrestag des schlechten Romans.«
»Darf ich fragen, wie viele Bücher du in deinem kurzen Leben gelesen hast?«
»Dreitausend.«
Kjell überschlug diese Zahl. Das konnte nie und nimmer stimmen. Eigentlich bringe das Ende einer Geschichte die Wahrheit, behauptete sie. Bei Strindberg bringe die Wahrheit die Geschichte.
Die Gewissheit des zierlichen Mädchens blendete ihn. »Hier in Schweden mögen wir das«, entgegnete er zur Verteidigung.
»Was ist das?«
»Das hier?« Er war heilfroh, dass das Gespräch seine Richtung wechselte. »Eine Halskette. Die tote Frau trug sie. Als wir sie fanden.«
Wenn schon Strindberg Hulda nicht einschüchterte, so vermochte das der Tod erst recht nicht. Sie griff nach der Plastiktüte und betrachtete den Inhalt.
»Ich bin der Sache auf den Grund gegangen«, sagte Kjell auf dem Weg zum Papierschrank. Er nahm ein weiteres Paket heraus, weil er das andere in der Küche liegen gelassen hatte, und deutete auf das Signet von Svenska Cellulosa.
Hulda würdigte Kjells Entdeckung kaum und aß weiter. »Valhnútur. Das ist ein Knoten.«
»Knoten. Wie kommst du darauf?«
»Am Zaumzeug.« Sie vollführte eine Vierteldrehung auf dem Bürostuhl, damit er ihr Profil sah. Sie tippte sich an die Wange. »Hier, wo die Riemen zusammenlaufen.«
Vielleicht war Elin Gustafsson Reiterin gewesen, überlegte Kjell, sportlich hatte sie allerdings nicht ausgesehen. Eher dicklich. »Warum sollte sie so einen Knoten als Anhänger um den Hals tragen? Walknütürr heißt der? Bei euch in Island?«
»Oder Odins Knoten. Weil Óðinn ihn benutzt hat. Er hat damit die Kräfte der Gegner bei der Schlacht gebunden.«
»Odin?« Kjell verschluckte sich.
Sie schlürfte bestätigend an ihrem Kaffee. Ziemlich laut sogar.
»In Island mögt ihr solche Sachen. Neulich habe ich etwas in der Zeitung darüber gelesen.«
»Irgendeine Lüge müssen sich die Zeitungsleute ja einfallen lassen, hat mein Opa oft gesagt.«
Wenn er das zierliche Mädchen so reden hörte, konnte Kjell den toten Großvater leibhaftig vor sich sehen. Anscheinend war er zu seinen Lebzeiten ihr einziger Bezugspunkt gewesen. »Ich lese Svenska Dagbladet«, sagte er, um das Thema in andere Bahnen zu lenken. »Das ist eigentlich eine sehr gute Zeitung.«
»Es ist nur, dass bei uns immer der Wind pfeift. Ich zum Beispiel komme vom Djúp.«
Man konnte Hulda nicht in andere Bahnen lenken. Auf einmal verstand er Snæfríður, wenn sie darüber klagte, keinen Einfluss auf ihre kleine Schwester zu haben. »Was ist dieses Tjupp? «, fragte er also.
Hulda blickte zum Fenster, wo der Wind die Schneeflocken so heftig gegen die Scheiben wehte, dass man sich wie in einem dahinrasenden Auto vorkam. »Eine schaurige Tiefe. Ein Fjord mit hohen Bergen und tiefem Wasser.«
»Dürfte ich noch einmal auf Odin zu sprechen kommen?«, erkundigte sich Kjell. »Der Knoten hat also mit Odin zu tun?«
»Über Knoten weiß ich einiges, über Odin nicht. Der hat keine Bedeutung bei uns im Norden. Der Gott der Nordleute ist Þórr.«
»Stop, Hulda! Ich will nicht über Thor, sondern über Odin reden.«
»Warum?«
»Hast du schon einmal von Odins Auge gehört?«
»Am Mímisbrunnen hat er sein Auge geopfert. Mímir ist der Gott der Tiefe.«
»Der Tiefe?«
»Des Wissens. Außerdem Brunnenbesitzer.«
Kjell stand abrupt auf und stellte sich vor die Fensterscheibe. Odin hat also sein Auge geopfert, um zu tieferem Wissen zu gelangen. Deshalb hatte das Wetteramt seine Tiefenbojen ›Odins Auge‹ genannt. Sie waren kugelrund und sollten das Wissen über die Strömung im Fjord vertiefen.
Warum passierte das, fragte er sich. Warum sprang am Strandbad eine Boje dieses Namens aus dem Wasser, neben einer Toten, die einen Anhänger um den Hals trug, der ›Odins Knoten‹ hieß? Vernünftig betrachtet, konnte dazwischen keine Verbindung bestehen. Elin hatte mit der Boje nichts zu tun. Er musste ein Opfer seiner geschärften Sinne sein, so wie Kjell den Sprecher im Radio oft genau das Wort verwenden hörte, das Kjell gerade niederschrieb oder in einem Buch las.
Zweimal Odin. Das war eines jener unlogischen Zeichen, auf die Kjell dauernd stieß. Aber worauf wies das Zeichen? Er durfte um Himmels willen nicht übereifrig werden - kein Indiz deutete darauf hin, dass mehr an der Sache war. Andererseits hatte Elin in
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