Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Ich sah eine Brücke in diesem Traum, eine schmale Brücke,
wie die Klinge eines gebogenen Schwertes. Sie schwang sich weit über einen Abgrund, mitten hinein in ein alles verschlingendes Nichts, ein schwarzes Loch.“
Ich erschrak. Ted erzählte mir meinen eigenen Traum, den ich vor so vielen Jahren geträumt, den ich tief in mir begraben hatte, ohne je mit einem anderen
Menschen darüber zu sprechen.
„Die Brücke war von einem eigenartigen Gesetz bestimmt,“ fuhr Ted fort. „Es konnten nämlich nur solche Menschen sie unbeschadet überschreiten, die vorher
ihre natürliche Fähigkeit des klaren Denkens, der Unterscheidung, der Selbstkritik, aufgegeben hatten. Die Schlucht schien dabei die Rolle einer
Prüfungsinstanz zu spielen. Sie war nämlich nicht leer und tot, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte, sondern erfüllt von einer ungeheueren
Feuerenergie. Es waren unzählige Menschen diesseits der Brücke versammelt. Einer nach dem anderen betrat den klingenbreiten Steg. Die Energie griff gierig
nach jedem von ihnen. In jene Menschen, die nur noch ausgeleerte Hüllen waren, weil sie ihren eigenen Willen aufgegeben hatten, konnte sie ungehindert
eindringen und sie erfüllen, so wie Wasser ein leeres Gefäß auffüllt. Die anderen aber, die nicht hohl waren, boten dieser Energie natürlichen Widerstand
und wurden von ihr in rasender Wut von der Brücke hinabgestoßen in den Abgrund. So kam es, dass nur die Machtbesessenen, die Fanatiker, die naiv
Glaubenden, die Brücke überqueren konnten, hinüber in ein Land, das sie für das Paradies hielten, eine himmlische Welt ewiger Freuden. In diesem finsteren
Land aber herrschte diese todbringende Energie, dort hausten jene, die Verkörperungen dieser Kraft waren, verborgene, in undurchdringliche Schwärze
gehüllte Wesen. Von dort wurden die Menschen wieder über die Brücke zurückgeschickt, jetzt aber waren sie ganz angefüllt von der dunklen Macht, dass sie
wie in Trance tanzten, als hingen sie an unsichtbaren Fäden. Sie waren den dunklen Schemen jenseits der Brücke mit ihrem ganzen Sein verfallen. Ihr Tanz
auf der Klinge über dem Abgrund lockte immer mehr Leute zur Brücke, die diese Fähigkeit auch erlangen wollten und bereit waren, alles dafür aufzugeben. Es
war beängstigend, wie viel Menschen auf diese Weise in den Bann dieser Energie gerieten und zu Instrumenten ihres Willens wurden. Sie trugen die schwarze
Kraft zurück in ihre eigene Welt in dem Glauben, vom Hju auserwählt zu sein, und begannen, den Geist der Finsternis zu verbreiten. Sie waren Werkzeuge des
Bösen, ohne selbst böse zu sein. Heitere, glückliche Menschen, die alle glaubten, einer hohen spirituellen Kraft zu dienen, zum Wohle allen Lebens, in
Wirklichkeit aber nur als ausführende Organe eines fremden Willens missbraucht wurden.“
Ich schaute Ted lange an, bevor ich sagte: „Ich hatte eben diesen Traum vor vielen Jahren, nachdem ich Jason zum ersten Mal begegnet war. Nur waren nicht
viele Menschen bei der Brücke, bloß ein einziger tanzte schwerelos über dem Abgrund, geführt wie eine Marionette – Jason selbst. Er war der erste, der den
Weg über diese Brücke fand und als selbst ernannter Mahaguru zurückkehrte. Unzählige sind ihm seither gefolgt.“
„Je mehr Menschen diese Kraft durch sich fließen lassen, desto stärker vermag sie in dieser Welt zu wirken. Die Energie selbst ist machtlos, sie braucht
Instrumente, deren Gedanken, Gefühle, Körper sie benutzen kann, um zu agieren, so wie elektrischer Strom Kabel, Transformatoren und Steckdosen braucht. Die
Gedankenkraft eines einzelnen Menschen vermag wenig auszurichten, die gebündelte Gedankenkraft vieler aber kann die Welt verändern. Die dunkle Energie
braucht viele Menschen und sie benötigt eine gemeinsame Form, der sich diese Menschen unterordnen, um ihre verstreuten Gedankenkräfte zu sammeln und zu
konzentrieren. Wenn du das
Buch der Erleuchtung
unter diesem Gesichtspunkt liest, wirst du die Liga in einem neuen Licht sehen – alle Atmas sind
durch das Hju vereint und zugleich mit dem Mahaguru verbunden, und so weiter und so fort. Wenn genug Leute mit diesem Netz aus Marionettenfäden
zusammengeschweißt sind, ergibt das eine geistige Atombombe. Der Mahaguru und Leute wie Panetta sind in diesem Spiel nur das Mündungsrohr der Kanone, in
dem sich die Energie auf ein Ziel ausrichtet. Und ein Ziel wie Gordon, ein angegriffenes, von Leidenschaften und Süchten geschwächtes
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