Der Name der Rose
gefallen war, seit Jahren quält mich der Gedanke an diese Briefe . . . Und als ich dann hörte, wie Bruder William zu Severin von gewissen Schriftstücken sprach . . . ich weiß nicht, da packte mich die Angst, ich dachte, vielleicht hatte Malachias die Briefe loswerden wollen und sie Severin gegeben . . . Ich wollte sie vernichten und eilte zum Laboratorium . . . Die Tür stand offen, und Severin war schon tot, und da machte ich mich über seine Sachen her, um diese Briefe zu finden . . . Es war nur aus Angst
. . .«
William flüsterte mir ins Ohr: »Der arme Tropf: Aus lauter Angst vor der einen Gefahr läuft er blind in die andere hinein . . .«
»Nehmen wir an, daß du ungefähr – ich sage ungefähr – die Wahrheit sagst«, ergriff Bernard jetzt wieder das Wort. »Du dachtest also, Severin hätte die Briefe, und suchtest sie bei ihm. Und warum dachtest du, daß er sie hätte? Und warum hast du vorher die anderen drei Mitbrüder umgebracht? Dachtest du etwa, daß diese Briefe schon länger von Hand zu Hand gingen? Obliegt man etwa in dieser Abtei der Jagd nach Reliquien verbrannter Ketzer?«
Ich sah, wie der Abt zusammenzuckte. Es gab nichts Schlimmeres als die Bezichtigung, Ketzerreliquien zu sammeln, und Bernard war sehr geschickt im Vermengen der Morde mit Ketzerdelikten und beider mit den Gebräuchen in der Abtei. Ein Aufschrei riß mich aus meinen Gedanken: Es war der Cellerar, der schrill protestierte, er habe nicht das geringste mit den anderen Morden zu tun. Bernard beruhigte ihn im Tone der Nachsicht: Das sei im Augenblick nicht die Frage, um die es hier gehe, die Anklage laute auf Ketzerei, der Angeklagte solle nicht dauernd (hier wurde Bernard wieder streng) von seiner ketzerischen Vergangenheit ablenken, indem er vom toten Severin rede oder den Bibliothekar verdächtig zu machen suche. Also zurück zu den Briefen!
»Malachias von Hildesheim«, wandte er sich an den Zeugen, »Ihr steht hier nicht als Angeklagter. Heute früh habt Ihr mir rückhaltlos meine Fragen beantwortet, ohne mir irgend etwas zu verhehlen. Wiederholt uns nun bitte, was Ihr heute früh sagtet, und Ihr werdet nichts zu befürchten haben.«
»Ich wiederhole, was ich heute früh sagte«, begann der Bibliothekar. »Als Remigius damals zu uns gekommen war, begann er sich bald um die Küche zu kümmern, und so bekamen wir häufig aufgrund unserer Pflichten miteinander zu tun . . . Als Bibliothekar, müßt Ihr wissen, bin ich zuständig für die nächtliche Schließung des Aedificiums, mithin auch der Küche . . . Ich habe keinen Grund zu verhehlen, daß wir bald Freunde wurden im Geiste der Brüderlichkeit, auch hatte ich keinerlei Grund, irgendeinen Verdacht gegen ihn zu nähren. Eines Tages sagte er mir, er sei im Besitz von Dokumenten geheimer Natur, die ihm 237
Der Name der Rose – Fünfter Tag
anvertraut worden seien und nicht in falsche Hände geraten dürften. Da ich den einzigen Ort des Klosters verwalte, der allen anderen verboten ist, bat er mich, ihm diese Dokumente sicher aufzubewahren, verborgen vor jedem neugierigen Blick, und ich willigte ein, ohne zu ahnen, daß sie ketzerischer Natur sein könnten . . . Ich las sie auch selber gar nicht, sondern versteckte sie unverzüglich im . . . im unzugänglichsten Raum der Bibliothek, und seit damals habe ich nicht mehr daran gedacht – bis mich heute früh der Herr Inquisitor darauf ansprach, und da ging ich hin und holte die Dokumente und gab sie ihm . . .«
Der Abt unterbrach ihn ärgerlich: »Warum hast du mich nicht informiert über diesen deinen Pakt mit dem Cellerar? Die Bibliothek ist nicht dazu da, das Privateigentum der Mönche aufzubewahren!« Womit klargestellt war, daß die Abtei mit dieser Angelegenheit nichts zu tun hatte.
»Herr Abt«, antwortete Malachias verwirrt, »mir war die Sache damals nicht wichtig genug erschienen.
Verzeiht mir, ich habe gefehlt ohne Arglist.«
»Gewiß, gewiß«, versicherte der Inquisitor in herzlichem Ton, »wir alle sind überzeugt, daß der Bibliothekar in gutem Glauben gehandelt hat, und der Freimut, mit dem er dieses Gericht unterstützt, beweist es. Ich bitte Euer Hochwürden brüderlich, ihm jenes kleine Versäumnis von damals nicht nachzutragen. Wir haben Vertrauen zu Malachias. Wir möchten ihn nur noch bitten, uns jetzt unter Eid zu bestätigen, daß diese Schriftstücke hier dieselben sind, die er mir heute früh übergab und die ihm vor Jahren Remigius von Varagine anvertraut hatte.« Er zog zwei
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