Der Name der Rose
als die anderen.«
»Und was geschieht jetzt, nachdem ich deinen Anschlag vereitelt habe?«
»Wir werden sehen . . . Ich will nicht unbedingt deinen Tod. Vielleicht kann ich dich überzeugen. Aber sag mir zuerst, wie du erraten hast, daß es um die zweite Poetik des Aristoteles ging.«
»Nun, deine Bannsprüche gegen das Lachen hätten mir sicher nicht ausgereicht, auch nicht das wenige, was ich über das neulich geführte Streitgespräch zwischen dir und den anderen erfahren habe. Ein paar Notizen, die sich Venantius gemacht hatte, halfen mir weiter. Ich verstand zuerst nicht, was sie bedeuteten, aber da waren Bezugnahmen auf einen Felsblock, der über die Ebene rollt, auf Zikaden, die am Boden singen, und auf verehrungswürdige Feigen. Das kam mir bekannt vor, ich hatte dergleichen schon irgendwo gelesen. Ich habe es nachgeprüft in diesen Tagen: Es sind Beispiele, die Aristoteles im ersten Buch der Poetik und in der Rhetorik zitiert. Dann fiel mir ein, daß Isidor von Sevilla sagt, die Komödie erzähle von Jungfrauenschändung und Dirnenliebe: de stupris virginum et meretricum amoribus . . . So nahm dieses Buch allmählich in meinen Gedanken Gestalt an. Ich könnte dir leicht seinen ganzen Inhalt erzählen, ohne die Seiten zu lesen, die mich vergiften sollten. Die Komödie entsteht in den komai , das heißt in den Dörfern der Bauern, und zwar als fröhliches Spiel nach reichlichem Mahl oder nach einem Fest. Sie handelt nicht von berühmten und mächtigen Menschen, sondern von gemeinen und komischen, die aber nicht böse sind, und sie endet auch nicht mit dem Tod der Helden. Die Wirkung der Lächerlichkeit erreicht sie, indem sie die Mängel und Laster der gewöhnlichen Leute zeigt. Aristoteles sieht in der Anlage und Bereitschaft zum Lachen eine Gutes bewirkende Kraft, die auch Erkenntniswert haben kann, wenn die Komödie durch 293
Der Name der Rose – Siebenter Tag
witzige oder geistreiche Rätsel und überraschende Metaphern, in welchen die Dinge anders dargestellt werden, als sie sind, also gleichsam durch Lügen uns zwingt, genauer hinzuschauen, bis wir auf einmal sagen: Sieh da, so ist das also, das hatten wir nicht gewußt! Die Wahrheit, erreicht durch Darstellung der Menschen und der Welt in entstellender Form, schlechter, als sie sind oder als wir glauben, daß sie es seien, schlechter jedenfalls, als die Tragödien, Heldenepen und Viten der Heiligen sie uns darstellen. Habe ich recht?«
»Ungefähr. Hast du es durch die Lektüre anderer Bücher herausgefunden?«
»Ja, und die meisten fand ich auf dem Arbeitstisch des Venantius. Ich glaube, er war diesem Buch schon seit längerer Zeit auf der Spur. Vermutlich hatte er im Katalog die Titel gefunden, die auch mir aufgefallen waren, und richtig daraus gefolgert, daß es sich um den gesuchten Band handeln mußte. Aber er wußte nicht, wie man ins Finis Africae eindringt. Als er dann Berengar zu Adelmus darüber sprechen hörte, stürzte er sich darauf wie der Hund auf die Fährte des Hasen.«
»Genauso ist es gewesen. Ich hatte es gleich erkannt und begriff nun, daß der Zeitpunkt gekommen war, da ich die Bibliothek mit Zähnen und Klauen verteidigen mußte . . .«
»Und da hast du das Gift appliziert. Dürfte recht schwierig gewesen sein . . . im Dunkeln.«
»Meine Hände sehen inzwischen besser als deine Augen. Ich hatte mir aus Severins Laboratorium auch einen Pinsel besorgt. Und ich benutzte natürlich auch Handschuhe . . . Es war eine gute Idee, nicht wahr?
Du hast lange gebraucht, bis du dahintergekommen bist . . .«
»Ja, ich hatte eine kompliziertere Falle erwartet, einen vergifteten Zahn oder etwas dergleichen. Ich muß zugeben, deine Lösung war wirklich beispielhaft: Das Opfer vergiftete sich von allein, und zwar genau in dem Maße, wie es weiterlesen wollte . . .«
Ein leichtes Schaudern erfaßte mich, mir wurde auf einmal klar, daß diese beiden zu einem tödlichen Zweikampf angetretenen Männer einander gerade wechselseitig bewunderten, als hätte jeder die ganze Zeit nur gehandelt, um sich den Beifall des anderen zu sichern. Wahrlich, schoß es mir durch den Kopf, die Verführungskünste, die Berengar aufgeboten hatte, um den begehrten Adelmus zu umgarnen, und die schlichten, natürlichen Gesten, mit denen das Mädchen meine Leidenschaft und mein Verlangen geweckt, waren nichts, was Schläue und fintenreichen Eroberungswillen betraf, im Vergleich zu dieser wechselweisen Verführung, die sich da vor meinen Augen abspielte und die
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