Der Name der Rose
züchte ich Baldrian in meinem Garten. Wenige Tropfen davon in einen Aufguß aus anderen Kräutern wirken beruhigend auf das Herz, wenn es unregelmäßig schlägt. Eine übertriebene Dosis führt zum Starrkrampf und schließlich zum Tod.«
»Und an der Leiche hast du keine Spuren eines besonderen Giftes gefunden?«
»Keine. Aber viele Gifte hinterlassen auch gar keine Spuren.«
Wir gelangten zum Hospital. Die Leiche war, nachdem man sie im Badehaus gewaschen hatte, hierher gebracht worden und lag nun auf einem großen Tisch in Severins Laboratorium. Destillierkolben und ähnliche Gegenstände aus Glas und Ton ließen mich sofort (obwohl ich nur aus Erzählungen davon wußte) an eine Alchimistenwerkstatt denken. Phiolen, Flaschen, Krüge und Schalen reihten sich auf einem langen Regal an der Wand.
»Prächtige Heilkräutersammlung«, sagte William. »Alles Erzeugnisse eures Gartens?«
»Nein«, antwortete Severin. »Viele Substanzen, seltene und solche, die nicht in dieser Gegend wachsen, 70
Der Name der Rose – Zweiter Tag
sind mir im Lauf der Jahre von Mönchen aus allen Teilen der Welt gebracht worden. Ich habe sehr kostbare, die man kaum auftreiben kann, neben anderen, die sich leicht aus der hiesigen Vegetation gewinnen lassen.
Sieh mal, hier zum Beispiel . . . gestoßenes Alghalingho, kommt aus Kathai, ich erhielt es von einem arabischen Gelehrten. Aloesaft aus Indien, gibt einen sehr guten Wundverband. Quecksilber, macht Tote wieder lebendig, oder sagen wir lieber: macht Ohnmächtige wieder munter. Arsenik: sehr gefährlich, ein tödliches Gift, wenn man es schluckt. Borax, gut für kranke Lungen. Betonica officinalis, auch Heilziest genannt, ein gutes Mittel bei Schädelbrüchen. Mastix: mildert das Lungenpfeifen und die lästigen Katarrhe.
Und hier Myrrhen . . .«
»Die der drei Weisen aus dem Morgenland?« fragte ich neugierig.
»Ja, aber hier im Abendland ist sie gut gegen Fehlgeburten. Sie wächst auf einem Baum namens Balsamodendron myrrha. Und dies hier ist Mumia, etwas sehr Seltenes, man gewinnt es aus der Zersetzung mumifizierter Leichen, es dient zur Zubereitung vieler geradezu mirakulöser Medikamente. Und hier die Alraunwurzel, Mandragola officinalis, fördert den Schlaf . . .«
». . . und die fleischliche Lust«, warf William ein.
»So sagt man, aber hier bei uns wird sie nicht zu diesem Zweck benutzt, wie ihr euch denken könnt«, sagte Severin lächelnd. »Und seht dies hier: Tutia, wunderbar für die Augen . . .«
»Und was ist das?« fragte William lebhaft und zeigte auf einen Stein, der zwischen den Gläsern lag.
»Das? Der ist mir vor langer Zeit geschenkt worden. Ein Stein, der verschiedene Heilkräfte haben soll, aber ich habe noch nicht herausgefunden, welche. Kennst du ihn?«
»Ja«, sagte William, »aber nicht als Medizin.« Er zog ein kleines Messer aus seiner Kutte und führte es langsam an den Stein heran. Als das Messer, das seine Hände mit äußerster Vorsicht bewegten, kurz vor dem Stein angelangt war, tat die Klinge plötzlich einen Sprung, als hätte William mit der Hand gezuckt (er hatte sie aber ganz ruhig gehalten), und schlug an den Stein mit einem leichten metallischen Klick.
»Siehst du«, sagte William zu mir, »er zieht Eisen an.«
»Und wozu dient er?« fragte ich.
»Zu verschiedenen Zwecken, ich werde dir später davon erzählen. Jetzt möchte ich erstmal von Severin wissen, ob hier etwas ist, was einen Menschen töten könnte.«
Severin überlegte einen Moment lang, fast ein wenig zu lange für die klare Antwort, die er dann gab:
»Vieles. Ich sagte doch: die Grenze zwischen Medikament und Gift ist fließend, die Griechen nannten beides pharmakon .«
»Und ist dir in letzter Zeit irgend etwas abhandengekommen?«
»Nein, in letzter Zeit nicht.«
»Und früher?«
»Wer weiß? Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin seit dreißig Jahren in dieser Abtei und im Hospital seit fünfundzwanzig.«
»Zu lange für ein menschliches Gedächtnis«, sagte William verständnisvoll. Dann, unvermittelt: »Wir sprachen gestern von Pflanzen, die Visionen hervorrufen. Welche sind das?«
Severins Gesicht und sein ganzes Verhalten drückten den lebhaften Wunsch aus, dieses Thema umgehen zu können. »Darüber müßte ich erstmal nachdenken. Weißt du, ich habe hier so viele Wundersubstanzen
. . . Sprechen wir lieber von Venantius. Was hältst du von der Sache?«
»Darüber müßte ich erstmal nachdenken«, sagte William.
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Der Name der Rose – Zweiter
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