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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Johnson
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sein? Soll ich etwa die Tatsachen unseres Universums verschleiern?»
    «Tiberius –» Viele nannten ihn Tibby, aber ich kannte ihn nicht besonders gut, und außerdem konnte er jeden Moment vor unseren Augen durchdrehen. Die Lage schien den vollen Namen zu verlangen.
    Das rief mir den Augenblick mit dem Patienten auf dem Swans Grove Campus in Erinnerung, dem mit dem Schädeltrauma und seiner hochgereckten unsichtbaren Fackel. Es schien genau die Art von Bemerkung zu sein, die dieser Patient hätte machen können. Als meine Mutter starb, wurde ihre Leiche von Hunden gefressen. Stattdessen hatte er mir seinen Namen und seine Adresse gegeben, und ich hatte sie noch immer irgendwo auf einem Zettel. Robert Hicks.
    «Also gut», sagte Tiberius. «Dann höre ich jetzt auf, Sie zu beunruhigen, und sage etwas Triviales muy apropos. Sprechen Sie zum Beispiel Deutsch? Nein. Auch gut. Dann wird es Sie interessieren zu erfahren, dass das englische Lehnwort klatsch auf deutsch ‹Tratsch› bedeutet. Da kommt unsere wundervolle Gastgeberin; sprechen Sie Deutsch?», fragte er, als Clara Frenow näher kam, die sich Krümel vom Busen wedelte, wobei ihr Zuckerguss in den Ausschnitt fiel. «Beim du klatsch werden wir von Hunden zerrissen.»
    «Ich dachte, Sie hätten gesagt», sagte sie, «hatten Sie nicht gesagt –?»
    «Ja, im Bemühen, dem Anlass gemäß trivial und zugleich eine Spur germanenhaft zu sein. Clara. Meine Göttin. Sind Sie eigentlich die Erfinderin des Gedankens, dass wir ab und zu miteinander klatschen sollten?»
    «Ah. Ja», sagte sie, «Oder eher – nein, Tibby. Das ist Tradition seit den Siebzigern.» Clara hatte ihre Chemotherapie abgeschlossen. Sie trug keine Perücke, sondern verbarg ihren stellenweise kahlen Schädel unter diversen Kopfbedeckungen wie Baseballkappen, Strickmützen, Filz- und Strohhüten, einer Seemannsmütze und heute einem schicken blauen Barett, das sie wie ein englisches Schulmädchen aussehen ließ. Ein paar Wochen lang hatte sie im Feuer des Kampfes geglüht. Sie hatte nur so gesprüht vor neuen Ideen und den Eindruck gemacht, als schaute sie vom Gipfel eines Berges auf die Gegebenheiten ihres Lebens hinunter. Offenbar war der Kampf erfolgreich verlaufen, der Krebs zurückgedrängt und Clara wieder eins mit ihrem erbärmlichen alten Selbst.
    Doch waren wir anderen nicht genauso erbärmlich? Diese bescheidenen Zusammenkünfte, bei denen man den Zucker, die Kekse riechen kann. Bei uns gab es keine Kleiderordnung, aber man konnte diese Treffen kaum erträglicher gestalten, indem man in Shorts und Tennisschuhen kam. Edelstahl-Isolierkannen auf braunen Arbeitstischen, unter weißem Spitzenpapier versteckt. Frau Professor Frenow mit ihrer lächerlich schicken Kopfbedeckung, Tiberius Soames, der, mit den Fingerspitzen über eine schwebende Braille-Schrift tastend, aussah, als schmerzte ihn jeder Luftzug auf der Haut. Er blieb in meiner Nähe, schwieg jedoch. Er lächelte breit, abwesend, erschreckt. Ich konnte nicht sagen, ob er meinet- oder seinetwegen litt.
    Das Historische Institut florierte ausschließlich wegen ihm. Als junger Diplomat in der haitianischen Regierung, ich glaube, als Assistent des dem Präsidenten unterstellten Chargé d’Affaires, war er in eine Verschwörung verwickelt gewesen, ziemlich direkt, wie er sagte, und ich zweifelte nicht daran. Er floh nach Frankreich und erhielt dort Asyl als politischer Flüchtling, was ihn vor der Ausweisung bewahrte. Er behauptete, der britische Nachrichtendienst MI-6 habe ihn nach Paris geschleust. Wenn er von seiner Vergangenheit sprach, sagte er irgendwann im Verlauf der Geschichte unweigerlich: «All die Jungs vom MI-6 sind auf dieselbe Schule gegangen und hatten eine schlimme Jugend.» Diese Tatsache war ihm wichtig. Offenbar ging sie ihm ständig im Kopf herum, aber soviel ich weiß, gelang es ihm nie, uns anderen ihre Bedeutung zu vermitteln. Doch die Studenten liebten seine privaten Reminiszenzen, Erzählungen, die manchmal ganze Seminarstunden verschlangen, die er aber in einer Art und Weise mit dem Studium der Geschichte verflocht, dass diese als eigentlicher Nährboden unseres Lebens erkennbar wurde. Schließlich stand dort ja ein Mensch, dem in seinem Vaterland die Todesstrafe drohte. Daran war die Geschichte schuld. Zurückkehren würde er nie. Er hatte ein halbes Dutzend Bücher verfasst, schrieb regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Foreign Affairs und lebte in einem komfortablen Exil. Aber immerhin, es war ein

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