Der Name Des Windes
man direkt ins unterste Geschoss des Magazins gelangte. Durch sie hatten die Mitarbeiter der Bibliothek Zugang zum Belüftungssystem. Die Tür war natürlich abgeschlossen gewesen, aber abgeschlossene Türen hatten für mich nie ein großes Hindernis dargestellt.
Davon verriet ich Fela jedoch nichts. Mir war klar, dass ich diesen geheimen Zugang nur nutzen konnte, solange er geheim blieb. Es einer Mitarbeiterin der Bibliothek zu verraten, selbst einer, die mir einen Gefallen schuldig war, wäre keine gute Idee gewesen.
»Hör zu«, sagte ich schnell. »Es besteht keinerlei Gefahr. Ich bin schon seit Stunden hier, und niemand ist auch nur in meine Nähe gekommen. Jeder hier trägt eine Lampe mit sich herum, und so ist es ganz einfach, den Leuten aus dem Weg zu gehen.«
»Ich war bloß überrascht, dich hier zu sehen«, sagte Fela und strich sich das dunkle Haar zurück. »Aber du hast recht, es ist wahrscheinlich sicherer da draußen.« Sie öffnete die Tür und schaute, ob die Luft rein war. »In diesen Lesezimmern wird stichprobenmäßig nachgesehen, damit hier keiner schläft oder ein Schäferstündchen hält.«
»Wie bitte?«
»Es gibt vieles, was du über die Bibliothek noch nicht weißt«, sagte sie mit einem Lächeln und hielt mir die Tür auf.
»Deshalb brauche ich deine Hilfe«, sagte ich, als wir zurück ins Magazin gingen. »Ich finde mich hier überhaupt nicht zurecht.«
»Was suchst du denn?«
»Ach, tausenderlei. Aber wir könnten mit der Geschichte der Amyr anfangen. Oder mit Sachliteratur über die Chandrian. Eigentlich interessiert mich alles über diese beiden Themen. Und ich habe bisher nichts dazu gefunden.«
Ich versuchte erst gar nicht, meine Frustration zu verhehlen. Dass ich nach so langer Zeit nun endlich Zugang zur Bibliothek hatte, hier aber keine der Antworten finden konnte, nach denen ich suchte, war wirklich zum Verrücktwerden. »Ich hätte gedacht, hier wäre alles besser geordnet«, sagte ich.
Fela kicherte. »Und wie würdest du das machen? Das hier ordnen, meine ich.«
»Darüber habe ich in den letzten Stunden auch nachgedacht«, sagte ich. »Am besten wäre es wohl, man würde es nach Kategorien ordnen. Also: Geschichtsbücher, Memoiren, Grammatiken …«
Fela blieb stehen und seufzte. »Dann bringen wir das mal schnell hinter uns«, sagte sie und zog auf gut Glück einen schmalen Band aus einem Regal. »Zu welcher Kategorie gehört dieses Buch?«
Ich blätterte darin herum. Es war in einer alten, schwer zu entziffernden Handschrift abgefasst. »Das scheinen Memoiren zu sein.«
»Was für Memoiren? Und in welcher Beziehung stehen sie zu anderen Memoiren?«
Ich blätterte weiter und stieß auf eine sorgfältig gezeichnete Landkarte. »Eigentlich sieht es eher wie ein Reisebericht aus.«
»Gut«, sagte sie. »Und wo würdest du es jetzt in der Abteilung Memoiren und Reiseberichte einordnen?«
»Die würde ich geographisch sortieren«, sagte ich. Das Spiel fing an, mir Spaß zu machen. Ich blätterte weiter. »Atur, Modeg und … Vint?« Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich den Rücken des Buchs. »Wie alt ist denn das? Das Aturische Reich hat Vint doch schon vor über dreihundert Jahren geschluckt.«
»Vor über vierhundert Jahren«, berichtigte sie mich. »Wo würdest du also einen Reisebericht einordnen, der von einem Land berichtet, das es gar nicht mehr gibt?«
»Dann wäre es ja eigentlich eher ein Geschichtswerk«, sagte ich etwas bedächtiger.
»Aber wenn es nicht so ganz den Tatsachen entspricht?«, fragte Fela. »Wenn es eher auf Hörensagen als auf eigenen Erlebnissen beruht? Was ist, wenn der Bericht frei erfunden ist? Als Reisebericht ausgegebene Romane waren in Modeg vor einigen Jahrhunderten groß in Mode.«
Ich klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. »Jetzt fange ich an, das Problem zu verstehen«, sagte ich nachdenklich.
»Nein, das tust du nicht«, erwiderte Fela frei heraus. »Du hast nur einen kurzen Blick auf den äußersten Rand des Problems erhascht.« Sie zeigte auf das Magazin ringsumher. »Nehmen wir mal an, du würdest morgen zum Meister der Bibliothek ernannt. Wie lange würdest du brauchen, um das alles hier zu ordnen?«
Ich sah mich zu den unzähligen Regalen um, die sich in die Dunkelheit hinein erstreckten. »Das wäre wohl eine Lebensaufgabe.«
»Wie sich gezeigt hat, reicht ein Leben dafür nicht aus«, bemerkte Fela trocken. »Wir haben hier über eine Dreiviertelmillion Bände – die Tontafeln,
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