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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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wirkten sie vor der kohlengrauen Kulisse der mondbeschienenen Straßen Tarbeans wie huschende Schatten.
    Keine Minute später sah ich den Festumzug um die Ecke biegen und auf mich zukommen. Die Stimmen Hunderter Männer und Frauen brandeten singend und rufend über mich hinweg. Ich wichzurück, mit dem Rücken eine Mauer entlang, und dann auf schwachen Beinen seitwärts, bis ich die Nische eines Hauseingangs fand.
    Von dort aus sah ich den Festumzug vorüberziehen. Menschen strömten unter Rufen und Gelächter vorüber. Tehlu stand stolz auf einem von vier Schimmeln gezogenen Wagen. Seine Silbermaske leuchtete im Fackelschein. Sein weißes Gewand, an den Manschetten und am Kragen mit Fell gesäumt, war makellos rein. Graugewandete Priester gingen Glocken läutend und psalmodierend neben dem Wagen einher. Viele von ihnen trugen die schweren Eisenketten des Büßergewands. Der Klang der Stimmen, Glocken und Ketten verschmolz zu einer einzigen Musik. Aller Augen waren auf Tehlu gerichtet. Niemand sah mich in dem dunklen Hauseingang stehen.
    Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie alle vorübergezogen waren, und erst dann trat ich vorsichtig den Heimweg an. Ich kam nur langsam voran, fühlte mich aber dank der Münze in meiner Hand gestärkt. Alle zehn, fünfzehn Schritte sah ich mir das Talent an, um mich zu vergewissern, dass meine fühllose Hand es noch fest umschloss. Ich hätte gern die Handschuhe angezogen, die ich geschenkt bekommen hatte, fürchtete aber, die Münze dann versehentlich fallenzulassen und im Schnee zu verlieren.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich für den Heimweg brauchte. Das Gehen wärmte mich ein wenig, aber meine Füße waren immer noch wie betäubt. Als ich mich umblickte, sah ich, dass meine Spur in jedem zweiten Fußabdruck von Blutflecken markiert war. Das beruhigte mich auf seltsame Weise. Immer noch lieber ein Fuß, der blutet, als einer, der steifgefroren ist.
    Ich hielt beim ersten Wirtshaus, das ich kannte, dem Lachenden Mann. Dort spielte Musik, es wurde gesungen und gefeiert. Ich mied den Haupteingang und ging hinten herum. Zwei Mädchen schwatzten an der Küchentür, wo sie sich vor ihrer Arbeit drückten.
    Ich humpelte zu ihnen, stützte mich dabei an der Mauer ab. Sie bemerkten mich erst, als ich fast schon bei ihnen war. Als die Jüngere mich sah, stockte ihr der Atem.
    Ich trat noch einen Schritt näher. »Könnte eine von euch mir etwas zu essen und eine Decke bringen? Ich kann bezahlen.« Ich streckte ihnen die Hand entgegen und sah erschrocken, wie heftig siezitterte. Sie war mit Blut befleckt, weil ich damit meine Schläfe berührt hatte. Meine Mundhöhle fühlte sich wund an. Das Sprechen bereitete mir Schmerzen. »Bitte!«
    Sie sahen mich einen Moment lang verblüfft an. Dann tauschten sie einen Blick, und die Ältere schickte die Jüngere mit einer Handbewegung hinein. Das ältere Mädchen, das vielleicht sechzehn Jahre alt war, kam näher und streckte eine Hand aus.
    Ich gab ihr die Münze. Sie warf einen Blick darauf, und nachdem sie mich noch einmal gemustert hatte, verschwand sie im Wirtshaus.
    Durch die offenstehende Tür drang die Geräuschkulisse aus dem Schankraum zu mir: das Gemurmel der Gespräche, unterbrochen von Gelächter, Flaschengeklimper und dem Klappern der Holzkrüge.
    Und im Hintergrund erklang eine Laute, fast vom übrigen Lärm übertönt, aber ich hörte es dennoch, hörte es, wie eine Mutter ihr Kind auch noch ein Dutzend Zimmer entfernt schreien hört. Die Musik beschwor Erinnerungen an Familie, Freundschaft, Zugehörigkeit herauf. Es ging mir durch und durch. Für einen Moment taten mir die Hände nicht mehr von der Kälte weh und sehnten sich vielmehr nach dem vertrauten Gefühl, dass Musik sie durchströmte.
    Langsam wich ich, indem ich mich an der Mauer abstützte, so weit von der Küchentür zurück, bis die Musik nicht mehr zu mir drang. Dann ging ich noch einen Schritt weiter, und die Hände schmerzten mir wieder vor Kälte, und der Schmerz in meiner Brust rührte weiter von meinen gebrochenen Rippen her. Das waren Schmerzen, die leichter zu ertragen waren als die Erinnerung der Musik.
    Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis die beiden Mädchen wiederkamen. Die Jüngere hielt mir eine Decke hin, in die irgendetwas eingewickelt war. Ich hielt sie mir vor die schmerzende Brust. Sie wirkte für ihre Größe unverhältnismäßig schwer, doch da meine Arme schon ein wenig unter der eigenen Last zitterten, war das schwierig zu beurteilen. Das

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