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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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sah mich mit seinen klaren blauen Augen an.
    Ich nickte, ohne zu wissen, was ich erwarten sollte.
    »Ich will etwas über die Wüstengebiete hinter dem Stormwal hören«, sagte ein kleines Mädchen. »Über die Sandschlangen, die wie Haie aus dem Boden geschossen kommen. Und über die Wüstenmenschen, die sich in den Sanddünen verbergen und Menschenblut trinken statt Wasser. Und –« Die Kinder rings um sie her brachten sie mit Knüffen zum Schweigen.
    Skarpi trank einen weiteren Schluck. Und wie ich so die Kinder beobachtete, die Skarpi beobachteten, wurde mir klar, woran sie mich erinnerten: an jemanden, der besorgt auf eine Sanduhr blickt. Vermutlich war, wenn der alte Mann den Krug geleert hatte, auch seine Geschichte zu Ende.
    Skarpi trank noch einen Schluck, nur einen kleinen diesmal, setzte den Krug ab und drehte sich auf dem Hocker zu uns um. »Wer möchte die Geschichte von dem Mann hören, der ein Auge verlor und dadurch einen schärferen Blick gewann?«
    Etwas an seinem Tonfall oder der Reaktion der Kinder verriet mir,dass es eine rein rhetorische Frage war. »Also: Lanre und der Schöpfungskrieg. Eine uralte Geschichte.« Sein Blick schweifte über die Kinder hinweg. »Bleibt sitzen und hört mir zu, denn ich werde von der leuchtenden Stadt erzählen, wie sie früher einmal war, vor vielen, vielen Jahren …«

    Es war einmal – vor vielen, vielen Jahren – Myr Tariniel. Die leuchtende Stadt. Sie prangte zwischen den hohen Bergen wie ein Edelstein auf einer Königskrone.
    Stellt euch eine Stadt vor, so groß wie Tarbean, aber an jeder Kreuzung mit einem Springbrunnen oder einem grünen Baum oder einer Statue, so schön, dass selbst einem stolzen Mann bei ihrem Anblick die Tränen kommen. Die Gebäude dort waren hoch und elegant, direkt aus dem Fels herausgemeißelt, aus dem leuchtend weißen Stein, der das Sonnenlicht speichert, lange noch nachdem sich der Abend herabgesenkt hat.
    Selitos war der Herrscher über Myr Tariniel. Nur indem er etwas in den Blick nahm, vermochte er seinen verborgenen Namen zu entziffern und es zu verstehen. Damals gab es viele, die so etwas konnten, aber Selitos war der mächtigste Namenskundige jenes Zeitalters.
    Selitos war bei seinen Untertanen sehr beliebt. Sein Urteil war streng und gerecht, und er ließ sich weder durch Lügen noch durch Heucheleien beirren. Sein Blick hatte eine solche Kraft, dass er in den Herzen der Menschen zu lesen vermochte wie in einem Buch mit großen Lettern.
    Nun wütete damals ein schrecklicher Krieg in einem großen Reich. Der Krieg wurde der Schöpfungskrieg genannt, und das Reich hieß Ergen. Und obwohl es auf der ganzen Welt nie wieder ein so großes Reich gegeben hat, und obwohl nie wieder ein so schrecklicher Krieg wütete, besteht beides heute nur noch in Geschichten fort. Selbst die Geschichtsbücher, in denen das Reich wie der Krieg als zweifelhafte Gerüchte erwähnt werden, sind längst zu Staub zerfallen.
    Der Krieg währte schon so lange, dass sich die Menschen kaumnoch an eine Zeit erinnern konnten, als der Himmel nicht vom Rauch brennender Städte verdunkelt war. Einst hatte es über das ganze Reich verteilt Hunderte stolze Städte gegeben. Nun aber waren davon nur noch mit Leichen übersäte Trümmer übrig. Hunger und Seuchen waren allgegenwärtig, und in manchen Gegenden herrschte eine derartige Verzweiflung, dass die Mütter nicht mehr genügend Hoffnung aufbrachten, um ihren Neugeborenen Namen zu geben. Acht Städte aber standen noch. Es waren dies Belen, Antus, Vaeret, Tinusa, Emlen und die Zwillingsstädte Murilla und Murella. Die Letzte war Myr Tariniel, die größte von allen und die einzige, die der schon Jahrhunderte lang andauernde Krieg noch nicht gezeichnet hatte. Sie ward geschützt von einem Gebirge und tapferen Soldaten. Doch der wahre Grund für den Frieden von Myr Tariniel war Selitos. Mit seinem machtvollen Blick wachte er über die Gebirgspässe, die in seine geliebte Stadt führten. Seine Gemächer befanden sich auf dem höchsten Turm der Stadt, und daher konnte er jeden Angriff erspähen, bevor er sich zu einer Gefahr auswuchs.
    Die übrigen sieben Städte, die keinen Selitos hatten, sicherten sich anderweitig. Sie vertrauten auf dicke Mauern, auf Stein und Stahl. Sie vertrauten auf die Stärke ihrer Waffen, auf Heldenmut und Tapferkeit und Blut. Und also vertrauten sie auf Lanre.
    Lanre kämpfte, seit er ein Schwert heben konnte, und als er in den Stimmbruch kam, war er einem Dutzend älterer

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