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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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entdeckten, diese alte Rechnung zu begleichen.
    Nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass diese Unternehmung zu riskant war. Die Aussicht auf ein paar Geschichten und die Chance, ein Silbertalent zu gewinnen, waren es nicht wert, dass die Sache mit Pike womöglich wieder aufloderte. Und außerdem: Um welche Geschichte sollte ich denn überhaupt bitten?
    Diese Frage ging mir in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Sinn: Um welche Geschichte sollte ich bitten? Ich rempelte einen Hafenarbeiter an, doch ehe ich ihm in die Tasche greifen konnte, hatte er mir schon eine schallende Ohrfeige verpasst. Welche Geschichte? Ich bettelte an der Straßenecke gegenüber der Tehlanerkirche. Welche Geschichte? Ich stahl drei Brote und brachte zwei davon Trapis. Welche Geschichte?
    Und als ich dann wieder in meinem Versteck lag, unter der Stelle, an der drei Dächer aufeinandertrafen, fiel es mir ein, als ich gerade beim Einschlafen war. Lanre. Natürlich. Ich konnte ihn bitten, die wahre Geschichte Lanres zu erzählen. Die Geschichte, die mein Vater …
    Mit pochendem Herzen erinnerte ich mich mit einem Mal wieder an Dinge, die ich jahrelang aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte: Mein Vater beim Lautenspiel, meine Mutter, wie sie auf dem Wagen neben ihm saß und sang. Reflexhaft zog ich mich vor diesen Erinnerungen zurück, wie man die Hand vor einem Feuer fortreißt.
    Zu meinem Erstaunen bargen diese Erinnerungen jedoch nur einen ganz leichten Schmerz und nicht die große Pein, die ich erwartet hatte. Und ich stellte fest, dass ich bei dem Gedanken, eine Geschichte zu hören, die auch mein Vater gewählt hätte, die er selbst hätte erzählen können, eine gewisse Aufregung empfand.
    Dennoch war mir klar, dass es die reine Torheit gewesen wäre, einer Geschichte wegen nach Dockside zu gehen. Der Pragmatismus, den Tarbean mich im Laufe der Jahre gelehrt hatte, riet mir dringend, in dem mir bekannten Weltwinkel zu verharren, wo ich in Sicherheit war …

    Das Erste, was ich beim Betreten des Halbmast sah, war Skarpi. Er saß auf einem Hocker am Tresen, ein alter Mann mit Augen wie Diamanten und dem Leib einer Vogelscheuche aus Treibholz. Er war mager und wettergegerbt und hatte dichtes weißes Haar auf den Unterarmen, im Gesicht und auf dem Kopf. Dieses Weiß stach scharf von seiner tiefen Sonnenbräune ab und ließ ihn aussehen wie mit Gischt besprüht.
    Zu seinen Füßen saß eine Schar von zwanzig Kindern, einige wenige in meinem Alter, die meisten jünger. Es war eine erstaunliche Mischung – von schmuddeligen, barfüßigen Streunern, wie ich einer war, bis hin zu einigermaßen gut gekleideten und frisch gewaschenen Kindern, die wahrscheinlich Eltern und ein Zuhause hatten.
    Keines von ihnen kam mir bekannt vor, aber ich wusste ja schließlich auch nicht, wer womöglich zu Pikes Freunden zählte. Ich fand eine freie Stelle in der Nähe des Eingangs, mit dem Rücken zur Wand, und hockte mich hin.
    Skarpi räusperte sich auf eine Art, die mich durstig machte. Dann blickte er mit trauriger Miene in den vor ihm stehenden Tonkrug und stellte ihn umgekehrt auf die Theke.
    Die Kinder drängten sich nach vorn, legten Münzen auf den Tresen. Ich zählte schnell mit: zwei eiserne Halbpennys, neun Scherflein und ein Deut. Zusammen etwas über drei Eisenpennys. Vielleicht bot er die Wette um das Silbertalent gar nicht mehr an. Wahrscheinlich war an dem Gerücht, das ich gehört hatte, gar nichts dran.
    Skarpi nickte dem Schankwirt fast unmerklich zu. »Roten Fallows.« Seine Stimme war tief und rauh und wirkte beinahe hypnotisch. Der kahlköpfige Mann hinterm Tresen raffte die Münzen zusammen und füllte Skarpis breiten Tonkrug mit Wein.
    »Also – was wollen wir denn heute hören?«, fragte Skarpi, seine tiefe Stimme wie fernes Donnergrollen.
    Einen Moment lang herrschte ein Schweigen, das mir beinahe ehrfürchtig erschien. Dann krakeelten die Kinder gleichzeitig los.
    »Ich will ein Märchen!«
    »… Oren und der Kampf in Mnat’s …«
    »Ja, Oren Velciter! Die Geschichte mit Baron …«
    »Lartam …«
    »Myr Tariniel!«
    »Illien und der Bär!«
    »Lanre«, sagte ich.
    Im Raum wurde es wieder still, und Skarpi trank einen Schluck. Die Kinder sahen ihm mit einer Gespanntheit dabei zu, die ich nicht recht einzuordnen vermochte.
    Skarpi saß ganz ruhig inmitten dieser Stille. »Habe ich«, fragte er mit einer Stimme wie aus dunklem, zähem Honig, »da jemanden Lanre sagen hören?« Er

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