Der Narr und der Tod
allen Seiten ab, was sie aussehen ließ wie eine wütende, braune Wolke.
So schnell würde ich an diesem Morgen wahrscheinlich keine weitere Minute für mich allein haben, weswegen ich rasch noch im Krankenhaus in Atlanta anrief.
In Johns Zimmer ging Mutter ans Telefon. Sie flüsterte, wie wir alle es machten, wenn wir am Krankenbett ernsthaft erkrankter Menschen saßen, und teilte mir mit, John ruhe sich gerade aus. Er solle noch weiter untersucht werden, habe aber auf jeden Fall einen „Zwischenfall mit dem Herzen“ erlebt. Das interpretierte ich als Herzinfarkt.
„Was sind seine Optionen?“, wollte ich wissen. Mutter hatte sofort all diese Schlagworte wie „Angioplastie“ und „Belastungstests“ parat, aber ich hörte kaum zu, weil ich eigentlich nur wissen wollte, was unter dem Strich dabei herauskam. Musste John bald sterben oder nicht? Nachdem ich Mutter so weit verstanden hatte, dass ich mir sicher war, John würde leben, wenn nichts Drastisches dazwischenkäme, war ich zufrieden. Infos über die Einzelheiten seiner Behandlung würde ich mir holen, wenn ich zumindest einen Teil meines Hirns frei genug hatte, um deren Bestandteile zu begreifen.
Mutter erwähnte das Baby mit keinem Wort. Auch sie hatte genug anderes um die Ohren.
Ich band die Schnürsenkel meiner Turnschuhe und versuchte, auf Zehenspitzen die Treppe hinunterzusteigen. Martin und Rory waren in der Küche. Martin war weich geworden; er hatte dem Jungen eine Tasse Kaffee eingeschenkt und in der Mikrowelle ein paar Zimtrollen für ihn aufgewärmt. Rory sah auf, als ich hereinkam, aber sein bewunderndes Grinsen bei meinem Anblick fiel mir einen Tick zu dick aufgetragen aus, weswegen ich mich nicht erbot, ihm auch noch ein paar Eier mit Speck zu braten.
„Rory erzählt mir gerade von Craig.“ Martin saß unserem Besucher gegenüber am Küchentisch, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht entspannt und cool. Mr. Skeptisch hoch zehn.
„Was erzählt er denn so?“ Ich setzte mich ans Tischende, möglichst nah zum Flur und zur Treppe. Der hintere Teil meines Hirns dachte gerade darüber nach, wer mir ein Babyphon leihen könnte. So nannte man diese Überwachungsdinger doch, oder?
„Ich habe Mr. Bartell gerade erzählt, dass Craig und ich uns schon seit Ewigkeiten kennen. Unsere Familien waren befreundet, Craig und ich waren schon als Kleinkinder beste Freunde. Als seine Eltern starben, zog Craig zu seinem Onkel und seiner Tante, Mr. und Mrs. Harbor. Sein Bruder Dylan war alt genug, um allein leben zu dürfen, aber zu jung, um die Verantwortung für Craig zu übernehmen. Die Harbors haben ihn gern bei sich aufgenommen.“ Rory legte eine Pause ein, um eine Zimtrolle zu essen, während ich versuchte, die eben genannten Namen und Verwandtschaftsverhältnisse zu verstehen.
„Die Harbors waren dann also die Leute, die bei Reginas Hochzeit die Rolle von Craigs Eltern übernahmen?“, hakte ich nach.
„Genau. Sein Onkel und seine Tante, Mr. und Mrs. Harbor.“ Rory nickte. „Sie hatten schon vier eigene Töchter großgezogen. Aber jetzt ist Mr. Harbor ziemlich krank.“
Martin und ich blinzelten unseren Besucher an wie leicht demente Nachteulen.
„Hugh Harbor?“ Martin hatte den Namen offenbar aus uralten Erinnerungen herauskramen müssen.
„Genau!“ Rory nuschelte, die Frage hatte ihn mit einem Mund voll Zimtröllchen erwischt. „Mrs. Harbor ist eine geborene Thurlkill.“
„Wie steht es mit Ihrer Familie?“, bohrte Martin weiter.
„Meine Mutter, Cathy, ist auch eine geborene Thurlkill.“ Darauf schien Rory ziemlich stolz zu sein. „Craig und ich sind irgendwie verwandt. Mein Dad ist Chuck Brown, sein Dad war Ross Graham.“
Martins Blick wanderte vom Tisch zum Kühlschrank. Er dachte nach, was ich an der nervösen Art erkannte, in der seine Finger sich bewegten. Das taten sie immer, wenn meinem Mann etwas im Kopf herumging, worüber er nicht reden konnte oder wollte.
„Craigs Bruder war bei der Hochzeit“, sagte er plötzlich. „Schien mir ein ganz netter Kerl zu sein.“
„Dylan ist ein prima Typ.“ Rory strahlte. „Er und seine Frau Shondra haben die niedlichste kleine Tochter, die man sich vorstellen kann.“
Martin starrte weiterhin auf den Kühlschrank, und seine Finger bewegten sich noch immer.
Das wurde langsam ungemütlich, irgendwer sollte jetzt etwas sagen.
„Wenn Sie sich frisch machen wollen, Rory: Im unteren Bad liegt in der obersten Kommodenschublade eine noch verpackte Zahnbürste“,
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