Der Narr
Verstöße nicht ahndeten! Wäre er einer der anwesenden uniformierten Kollegen, er würde allen Autobesitzern der Reihe nach die Leviten lesen! Sie würden vor seinen Augen die scheußlichen Dinger mit ihren Fingernägeln abkratzen. Bis nicht auch der letzte Rest verschwunden wäre, gäbe es keine Heimfahrt. Remmel seufzte. Seine Priorität musste der Mord sein. Er konnte sich nicht um alles kümmern.
An ihrem Ziel angelangt, parkte Hanni den Dienstwagen nicht ganz ordnungsgemäß neben einer Reihe älterer, teils schäbiger Autos, viel zu nahe an der Fahrertür des Nachbarautos. Endlich hatte Remmel es geschafft. Für den Chefinspektor war es höchste Zeit, aus diesem Blechsarg herauszukommen. So schaffte er es auch, sich die Bemerkung zu verkneifen, dass der Wagen gefälligst schön nach der StVO einzuparken sei.
Kaum hatte Hanni den Motor abgestellt und Remmel die Tür des Dienstwagens mit einer derartigen Wucht aufgestoßen, dass sie gegen das Nachbarauto krachte, hielt ihm schon ein Mann mit Dreitagebart, Mitte vierzig und circa 1.90 groß, die Hand entgegen. Anfangs fragte der Chefinspektor sich, was zum Teufel ein Einheimischer mit hängenden Schultern und einem schäbigen Trenchcoat von ihm wollte. Zivile Wichtigtuer standen auf seiner Beliebtheitsskala gleich nach Autobesitzern mit Heckscheibenaufklebern. Doch Remmel wurde unerwartet mit einem lässigen »Servas Remmi! Erinnerst du dich noch an mich?« begrüßt.
»Nicht einmal in Ruhe aussteigen kann man!«, brummte Remmel. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Jeder sah, wie er sich aus dem Auto quälte. Für jemanden, der nicht seine Gewichtsklasse hatte, war es unvorstellbar, was es bedeutete, jedes Mal sein Eigengewicht hochstemmen zu müssen, nur um so einen Blechsarg zu verlassen. An einem Tag, an dem er ohnehin lieber im Büro sitzen würde, war das übliche Getuschel über den ›Bladen‹ am Tatort das Letzte, das ihm noch fehlte, damit sein Tag endgültig ruiniert war.
Remmel musterte die zerzausten Haare, das dauernde Blinzeln und diese markante, knollige Nase. Dass sein fotografisches Gedächtnis ihn im Stich ließ, musste bedeuten, dass er irgendwann einmal beschlossen haben musste, den Kollegen zu verdrängen. Wo traf man Polizeibeamte, an die man sich nicht erinnern wollte? Natürlich! Bei einem Seminar, einem Hort des Besäufnisses, an dem das Gesindel sein wahres Ich zeigte und Karrieren ruiniert wurden. Gruppendynamisches Aktivseminar in Telfs – der Tag, an dem er Hüttenabende in Tirol, gepaart mit Teambuilding-Übungen, hassen gelernt hatte.
Das war er also. Der Mann, dem Bulli nicht zutraute, die Ermittlungen selbstständig durchzuführen. Der Schuft, der schuld daran war, dass Remmel sein heiliges Wien hatte verlassen müssen. Wegen ihm konnte er am Abend nicht mit Freunden zusammensitzen. Wegen ihm saß er jetzt nicht im gemütlichen Büro, um Solitär zu spielen, stets die Uhr im Auge, um auf die Sekunde genau den Dienst zu beenden. Wenigstens bemühte der Kollege sich, ein dialektfreies Deutsch zu sprechen.
»Ich hoffe, die Anreise aus Wien war angenehm?«
»Abgesehen davon, dass wir fast in Tschechien gelandet wären, war alles gut!«
Natürlich ließ Hanni sich den Seitenhieb nicht gefallen. Man konnte alles an ihr bekritteln, nur gegen ihr heiliges Smartphone durfte niemand etwas sagen.
»Mein lieber Kollege Remmel, die Navi-App ist vollkommen in Ordnung, mein Akku ist nur leer. Herr Wimmer, haben wir irgendwo eine mobile Ladestation?«
Ihr oberösterreichischer Kollege wollte gerade etwas sagen, da ergriff Remmel wieder das Wort: »Hier am Parkplatz fehlen ein paar Autos, Columbo. Den Reifenspuren zufolge sind sie noch nicht lang weg«, brummte Remmel. »Könnt ihr nicht einmal die Leute solange hierbehalten, bis ich komme? Ist das so schwer?«
Er achtete tunlichst darauf, seinem Kollegen finster in die Augen zu starren, weil er merkte, dass ihn das verunsicherte. Er würde ihm noch viele Gründe geben, um über den ›Bladen aus Wien‹ ablästern zu können. Je mehr die Oberösterreicher ihn hassten, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, noch einmal wiederkommen zu müssen.
Remmel zog sein Sakko aus und warf es auf den Rücksitz. Es war viel zu warm für einen Frühlingstag. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er ein wandelnder Schweißkoloss wäre. Er hasste es, wenn alles an ihm klebrig wurde. Seine Laune näherte sich wieder dem Tiefpunkt. Am Liebsten wäre er ins Auto eingestiegen, um den Weg in
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