Der nasse Fisch
Kameraden Jänickes von der Polizeischule Eiche, hatten den Sarg aus dem Leichenwagen genommen
und geschultert. Gleich hinter dem Pfarrer passierten sie den Eingang zum Friedhof, der Begräbniszug folgte. Es war still.
Ein Zeisig schickte seinen Ruf über die Gräber. Schweigend schritten die Kollegen nebeneinanderher. Leichter Regen begleitete
sie, dennoch schien es ein warmer Tag zu werden. Treibhauswetter. Rath war nicht der Einzige, der zu schwitzen begann. Zörgiebel
wischte sich mit einem weißen Tuch über die Stirn. Für ihn war es ein schwerer Gang, die Eltern eines Polizisten zum Grab
ihres Sohnes zu führen, der im Dienst gestorben war.
Der Polizeipräsident schritt mit den Jänickes gleich hinter dem Sarg und dem Pfarrer an der Spitze des Zuges. Die Sargträger
folgten der Hauptallee ein gutes Stück, bogen dann aber nach rechtsab, auf einen weiteren großen Weg. Nach einer Weile hatten sie eine Backsteinmauer erreicht. Ein paar Meter dahinter erhoben
sich Mietshausfassaden, daneben ein Backsteingebäude, wohl eine Schule. Direkt an der Mauer konnte Rath ein frisch ausgehobenes
Grab erkennen.
Der Pfarrer hatte die Grube erreicht und blieb stehen, die Sargträger gingen noch ein paar Schritte weiter, bis sie genau
rechts und links des Grabes standen. Sie wollten ihre Last vorsichtig auf die Holzbalken hinabsinken lassen, die quer über
das Grab gelegt waren, als ein kurzer, aber heftiger Schrei die Stille störte.
Ein Ausruf der Überraschung oder einer des Entsetzens? Rath konnte es nicht genau deuten, jedenfalls hatte einer der Sargträger
geschrien. Die sechs jungen Männer stockten mitten in ihrer Bewegung. Der Sarg geriet in eine gefährliche Schieflage, weil
nicht alle zur gleichen Zeit merkten, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Gesichtszüge der sechs entgleisten nach und nach,
allerdings hatten sie sich schnell wieder im Griff und schauten so stoisch ernst wie zuvor. Als Polizisten hatten sie gelernt,
sich zu beherrschen, doch Rath wusste, dass sie etwas Schlimmes gesehen haben mussten.
Und plötzlich war nichts mehr wie bei einer normalen Beerdigung.
Der Sarg hing immer noch zwischen Himmel und Erde, die Sargträger schienen sich nicht entscheiden zu können, wo sie ihn absetzen
sollten. Die jungen Beamten warfen sich unsichere Blicke zu. Dann schulterten sie den Sarg wieder und trugen ihn langsam zurück
auf den Friedhofsweg. Der Pfarrer, der auf dem Kies stehen geblieben war, um dort seine Worte zu sprechen, wich ihnen irritiert
aus. Zörgiebel reagierte sofort. Er ließ das Ehepaar Jänicke stehen, eilte schnell, aber weiterhin würdevoll zu der offenen
Grube und warf einen Blick hinein. Nur seine Augen, die er für den Bruchteil einer Sekunde aufriss, verrieten seine Überraschung.
Er nahm den Zylinder ab und tupfte sich die schweißnasse Stirn. Während er die Jänickes hart am Arm fasste und vom Grab wegzerrte,
gab er Gennat, der ein paar Meter vor Rath stehen geblieben war, einunauffälliges Zeichen. Der Chef der Inspektion A bewegte sich trotz seiner Leibesfülle erstaunlich flink. Seinem Mienenspiel
war nicht anzumerken, was er im Grab sah. Er winkte Böhm und ein paar Kollegen heran. Rath wusste nicht, ob auch er gemeint
war, er setzte sich ebenfalls in Bewegung. Was war da los?
Immer mehr Unruhe kam in die Begräbnisgesellschaft. Ein paar Neugierige traten nach vorn, wollten sehen, was die seltsamen
Reaktionen ausgelöst hatte. Ein Murmeln war zu hören, das zu einem immer lauteren Stimmengewirr anschwoll. Die Beerdigung
von Stephan Jänicke hatte plötzlich jede Feierlichkeit verloren.
Rath drängte sich an den Sargträgern vorbei, die den schweren Eichensarg immer noch geschultert hatten. Ein unerträglicher
Geruch drang aus der feuchten Erde.
Und dann sah er es.
Im ausgehobenen Grab lag bereits eine Leiche. Erdbrocken hingen an einem fleckigen und vermoderten grauen Anzug. Hände und
Füße waren zu blutverkrusteten Klumpen geronnen, die Verwesung hatte gründlich gewütet.
Ein Blitzlicht flammte auf und tauchte den Leichnam für einen Augenblick in gespenstisch grelles Licht.
Ein paar Reporter hatten ihre Fotoapparate gezückt und begannen instinktiv zu fotografieren. Gennat brüllte ein paar Befehle,
und Schupos drängten die Reporter beiseite. Schnell umringte eine Kette aus blauen Uniformen das Grab und verhinderte, dass
weitere Neugierige einen Blick hineinwerfen konnten.
Rath stand zwischen den
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