Der nasse Fisch
wäre noch etwas …« Der Portier wedelte mit einem Umschlag. »Vorhin ist Post für Sie gekommen.«
Rath nahm den Brief entgegen und ging zum Lift. Erst als er die Tür von Zimmer 412 verschlossen hatte, öffnete er das Kuvert
und ließ den kleinen silbrigen Schlüssel herausfallen.
Bevor Rath zu Bett ging, unternahm er noch einen kurzen Spaziergang zum Potsdamer Bahnhof und schaute in sein Schließfach.
Er legte die Pistole hinein und holte das kleine schwarze Buch heraus, bevor er das Fach wieder verschloss. Jänickes Notizbuch
war für ihn im Moment die spannendste Bettlektüre, die er sich vorstellen konnte, auch wenn er kaum ein Wort verstand.
[ Menü ]
28
D ie Kirche konnte die Menschenmenge kaum fassen. Zur Beerdigung von Stephan Jänicke war ein riesiges Polizeiaufgebot erschienen.
In den hinteren Reihen drängten sich die Zivilisten. Der gewaltsame Tod eines jungen Polizisten ging wohl vielen Berlinern
nahe. Fast alle Zeitungen hatten ihre Reporter geschickt.Die Männer mit den Kameras hielten sich dezent ganz hinten in der Kirche auf.
Rath schaute sich um. Einige Kirchenbänke waren komplett mit Uniformblau gefüllt. Die Zivilbeamten wirkten nicht weniger uniformiert,
allesamt in Schwarz und mit Zylindern in den gefalteten Händen. Rath trug denselben schwarzen Anzug, den er bei der Beerdigung
von Alexander LeClerk jr. getragen hatte. Unangenehme Erinnerungen. Er spürte, wie sie sich in seinem Kopf ausbreiten wollten.
Vorn am Altar stand der Sarg, bedeckt vom schlichten Schwarz-Weiß der preußischen Fahne, flankiert von zwei Schutzpolizisten
in Paradeuniform mit blinkenden Knöpfen und blitzeblank gewienerten Stiefeln. In der ersten Reihe direkt neben Zörgiebel standen
ein Mann und eine Frau, beide weißhaarig, obwohl sie nicht viel älter als fünfzig sein durften. Stephan Jänickes Eltern waren
aus Allenstein angereist. Soweit Rath wusste, war es das erste Mal, dass sie den polnischen Korridor durchquert hatten, das
erste Mal, dass sie überhaupt ihre ostpreußische Heimat verlassen hatten.
Wie würden sie reagiert haben, hätten sie gewusst, dass nur wenige Bänke hinter ihnen der Mörder ihres Sohnes stand? Bruno
Wolter hatte eine ernste Miene aufgesetzt, als er die Kirche betreten hatte. Sollte wohl Trauer heucheln. Jetzt konnte Rath
Wolters Gesicht nicht mehr erkennen, er hatte sich weiter hinten einen Platz gesucht. Rath wollte dem Onkel möglichst aus
dem Weg gehen, allein dessen Anblick war ihm unerträglich. Würde der Mörder den Jänickes am Grab in die Augen schauen können?
Würde er ihnen die Hand schütteln und kondolieren?
Das Buch des Toten hatte immer noch keine Antwort gegeben. Heute Morgen hatte Rath überlegt, es mitsamt der Pistole einfach
in den Kanal zu werfen, anstatt es zurück ins Schließfach zu legen. Doch er wollte die Hoffnung so schnell nicht aufgeben.
Kannte er das Motiv, könnte er auch die nötigen Beweise herbeischaffen. Dann würde das fatale ballistische Gutachten nur noch
aussagen, dass der Mörder Bruno Wolter offensichtlich auch einen gewissen Josef Wilczek erschossen hatte. Rath würde dem nicht
widersprechen. Nein, da hätte er keinerlei Skrupel mehr, nicht nachdem Wolter versucht hatte, ihm die Mordwaffe unterzuschieben und
ihn selbst zum Mordverdächtigen zu machen.
Der Gottesdienst verlief nüchtern, ohne jeden Prunk. Für Rath war es der erste Besuch in einer evangelischen Kirche, und er
war beinah enttäuscht. Als die Trauergemeinde sich an der Greifswalder Straße in Bewegung setzte, hielt er sich weiterhin
fern von Wolter. Das war nicht schwer, denn auch der hatte offensichtlich kein Interesse an einer Begegnung und ließ sich
ganz nach hinten ans Ende des Begräbniszuges zurückfallen. Rath blieb vorne bei den Mordermittlern, bei Gennat und Böhm.
Charly hatte er schon in der Kirche nirgends entdecken können. Wahrscheinlich musste sie in der Burg die Stellung halten.
War auch besser so. Jänickes Beerdigung war nicht gerade der richtige Ort, wo er ihr zum ersten Mal seit ihrem denkwürdigen
Auftritt auf der Pressekonferenz begegnen wollte. Sie sind ja vielleicht ein Arschloch, Herr Rath! Jetzt noch traf ihn jedes einzelne Wort. Wenn er an jenen Moment dachte, sah er sie wieder da stehen, wie sie ihm fest in
die Augen schaute, und in diesen Augen war plötzlich überhaupt keine Liebe mehr zu finden, sondern nur noch Enttäuschung und
Verachtung.
Sechs junge Männer, alles ehemalige
Weitere Kostenlose Bücher