Der Nautilus-Plan
Richtung Tür zurückzog und eine schallgedämpfte Pistole in die Manteltasche steckte.
Und dann schaute der Killer in den Spiegel an der Rückwand des Ladens und sah sie. Und sie sah, dass er sie sah. Sie starrten sich gegenseitig an. Natürlich hatte sie bis dahin längst ihre Waffe in der Hand.
Er riss seine Pistole wieder heraus und wirbelte herum. Seine erste Kugel durchschlug die Glastür und pfiff über ihre linke Schulter hinweg. Ihr blieb gerade genug Zeit, um sich zu ducken. Die Glassplitter bohrten sich in ihren Regenmantel, aber ihr Gesicht verfehlten sie.
Sie blickte auf. Sein Finger krümmte sich ein zweites Mal um den Abzug, seine Waffe war direkt auf sie gerichtet und seine Miene voller Zuversicht, weil sie wie gelähmt dastand.
Doch dann schoss sie. Ihre Kugel fuhr in seine Brust. Der Lärm des Schusses entwickelte in der engen Ladengasse die Gewalt eines Vulkanausbruchs. Seine Siegesgewissheit war ihm zum Verhängnis geworden: Sein schallgedämpfter Schuss ging ins Nirgendwo. Passanten suchten schreiend Deckung. Der Mann taumelte zurück, prallte gegen den großen Spiegel und glitt, einen Ausdruck des Erstaunens in seinem Gesicht, an der Wand entlang nach unten.
Als sie die Pistole in ihre Manteltasche zurücksteckte und das Weite suchte, brach in ihrem Inneren ein heftiger Widerstreit von Gefühlen los. Es war das erste Mal gewesen, dass sie einen Menschen getötet hatte. Sie hätte einfach weglaufen können, als sie sah, dass Bittermann tot war. Dann hätte sie seinen Mörder nicht gesehen, und sie hätte den Vorfall ihrem Vorgesetzten melden und ihn um entsprechende Anweisungen bitten können. Aber sie war geblieben. Lag es daran, dass sie sich für Bittermann, einen sympathischen, tapferen Mann, verantwortlich gefühlt hatte?
Er war tot, und sein Mörder war tot. Wenn man so etwas überhaupt aufrechnen konnte, war es eine angemessene Lösung. Aber ihr ging es um etwas anderes. Das Problem war, dass ihr der Wettkampf Spaß gemacht hatte und dass sie es genossen hatte, dass der Killer sie unterschätzt hatte. Und der Kitzel, den sie dabei verspürt hatte, hatte sie überrascht. Dass sie es toll fand, zu gewinnen, wusste sie bereits, aber das war einen Schritt weiter gegangen. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass in ihr gerade etwas geweckt worden war.
Natürlich hatten es die Art ihrer Aufträge und die Brutalität der damaligen Zeit mit sich gebracht, dass sie wieder getötet hatte. Erst viel später, als sie erfuhr, worin der wahre Beruf ihrer Eltern bestand, hatte sie sich zu fragen begonnen, in welchem Maß sie war wie sie.
Lange hatte sie nach Gründen für ihr Tun gesucht. Patriotismus allein reichte jedoch nicht als Begründung dafür aus, denn sie hätte das Problem, wie im Fall von Bittermanns Killer, an ihre Vorgesetzten weitergeben können. Von einer Lust am Töten konnte man auch nicht reden, weil es kein »Vergnügen« gewesen war, eher ein blinder Drang, einfach weiterzumachen, etwas zu korrigieren, es zu Ende zu bringen.
Später sollte sie immer wieder Unbehagen verspüren. Sie war sich nicht über ihre Beweggründe im Klaren gewesen, hatte sich nicht wirklich gekannt, was vielleicht daran lag, dass sie wie die Soldaten in Vietnam gewesen war – psychologisch darauf hinprogrammiert, einfach abzudrücken, ohne sich Gedanken zu machen, ob es richtig war und dass sie einem Menschen das Leben nahm.
Möglicherweise war das das Vermächtnis ihrer Eltern. Vielleicht auch das der Gesellschaft. Oder der CIA. Jedenfalls hatte sie heftige Schuldgefühle bekommen.
Inzwischen stieg überall auf der Welt die Gewaltbereitschaft. Ganz Europa hatte mit wachsender Jugendkriminalität zu kämpfen, und selbst in einem Musterstaat wie Schweden war das Durchschnittsalter männlicher Krimineller von zwanzig auf fünfzehn Jahre gesunken. In den Vereinigten Staaten waren so genannte Schulmorde an der Tagesordnung. Weltweit wurden immer mehr Menschen Opfer von Guerillakriegen, und Terroristen wurden, je nach politischer Ausrichtung, als Patrioten oder Mörder bezeichnet. Es hatte den 11. September, Afghanistan und den Irak gegeben. Die Akademikerin in ihr hätte hunderterlei Statistiken, Beispiele, Beobachtungen und Theorien aufzählen können.
Und als sie jetzt in ihrem Hotelzimmer stand, holte sie tief Luft und blickte auf die SIG Sauer hinab, die so einladend auf der Kommode lag. Wenn sich die Menschheit nicht an gewisse moralische Grundprinzipien hielt, herrschte in kürzester Zeit das
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