Der Nautilus-Plan
gegen die Wand schleudern, als ihr eine bessere Idee kam. Mit einem finsteren Lächeln ging sie ans Fenster und spähte nach unten. Die vermeintliche Späherin saß immer noch mit der Handtasche in ihrem Schoß auf der Bank. Sie wartete darauf, dass Liz auftauchte oder die Stunde verstrich.
Die Frau spielte eine wichtige Rolle: Sie arbeitete für den Erpresser.
In Lizs Kopf begann sich ein Plan herauszukristallisieren. Sie öffnete den Schrank, blickte auf Mac hinab und sagte ein stummes, wütendes Lebewohl. Dann nahm sie eine schwarze Jacke von einem Kleiderbügel. Sobald Macs Leiche entdeckt würde, könnte sie nicht mehr in das Hotelzimmer zurück.
Sie nahm das gesamte Bargeld und die Kreditkarten aus ihrer Handtasche, dann griff sie nach Ashers Baskenmütze und Sarahs Brille. Wo war Sarahs Umhängetasche? Sie lag auf der Kommode – neben der SIG Sauer. Während sie alles in die Tasche packte, wanderte ihr Blick immer wieder zu der Pistole. Sie erinnerte sich, wie sie sich in ihrer Hand angefühlt hatte, und es war, als riefe sie nach ihr wie eine lang vergessene Liebe.
Sie war zwar ganz hin und her gerissen, aber sie fasste sie nicht an. Sie schloss die Augen und dachte an eine Studie über Soldaten an der Front. Die Feuerrate der amerikanischen Truppen im zweiten Weltkrieg hatte nur 15 Prozent betragen. Die meisten hatten zu viel Angst gehabt, um abzudrücken, weil Menschen eine automatische Sicherung eingebaut haben, die sie davon abhält, ihre Artgenossen zu töten.
Für das Militär war der Trieb, andere Menschen nicht zu töten, ein ernstes Problem. Deshalb hatte es von Psychologen – Leuten wie sie – ein Trainingsprogramm entwickeln lassen, das Soldaten dahingehend konditionierte, dass sie schießen und töten konnten, ohne groß darüber nachzudenken. Bis Vietnam war die Feuerrate um das Sechsfache auf erstaunliche 90 Prozent gestiegen.
Sie musste an Wien denken. Es war 1991 gewesen, in der Dämmerung, in einer Gegend mit kleinen Läden und malerischen Straßenlaternen. Obwohl er ein zurückhaltender, eher ängstlicher Mensch war, war der Uhrmacher, zu dem sie unterwegs war, ein wichtiger CIA-Informant. Andreas Bittermanns Laden war bekannt dafür, dass man dort die anfälligen Uhren reparieren lassen konnte, die aus der Sowjetunion kamen. Natürlich kauften sich die in Wien stationierten kommunistischen Funktionäre umgehend westliche Uhren, aber nachdem sie irgendwann alle in die Heimat zurückkehren mussten, wo sich zu starke Verwestlichung sehr schädlich auf eine Apparatschik-Karriere – oder sogar die Lebenserwartung – auswirken konnte, brachten sie ihre sowjetischen Uhren zu Bittermann, um sie wieder instand setzen zu lassen.
Bittermann, der insgeheim fließend Russisch sprach, hörte aufmerksam zu, worüber die Ehefrauen, Freundinnen und Kinder miteinander sprachen, und leitete alle Beförderungen und Degradierungen, Ankünfte und Abreisen, Ambitionen und Schwächen der sowjetischen Elite an seinen Führungsoffizier weiter. Auf diese Weise gelangte Langley an so manche nachrichtendienstliche Perle. Liz, die sich zweimal mit Bittermann getroffen hatte, hatte sein Deutsch mit dem französischen Akzent und seinen altmodischen Backenbart richtig süß gefunden.
1991, nach dem Fall der Berliner Mauer, wurden die Ostblockstaaten unabhängig. Offiziell lag die Staatsführung jedoch immer noch in den Händen des Politbüros, das sich verzweifelt an seine ihm verbliebene Macht klammerte und dabei häufig auf billige Effekthascherei zurückgriff – es demonstrierte Stärke, indem es »Probleme« beseitigte. Andreas Bittermann war deswegen tief beunruhigt; er meldete Langley, das Politbüro habe von seinen antikommunistischen Aktivitäten erfahren.
Als Liz sich also damals seinem Laden genähert hatte, hatte sie die Hand in die geräumige Tasche ihres Regenmantels gesteckt, in der, für alle Fälle, ihre Walther steckte. Der Schalldämpfer war nicht aufgeschraubt, da die Waffe sonst für die Manteltasche zu sperrig gewesen wäre. Sie trug ein Kopftuch und flache Schuhe, eine normale Hausfrau, die kurz vor dem Abendessen noch ein paar Besorgungen machte.
Doch als sie die Glastür des Ladens erreichte und die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, sah sie Bittermann wie einen toten Vogel erschossen über dem Ladentisch liegen. In seinem Nacken klaffte ein blutige Ausschusswunde.
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Erregung beobachtete sie, wie sich sein Mörder mit dem Rücken zu ihr in
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