Der Nautilus-Plan
blanke Chaos. Eine Welt ohne moralische Normen war kein lebenswerter Ort. Frieden entstand im Kopf. Es konnte nichts Gutes dabei herauskommen, wenn die Rechte des Individuums mit Füßen getreten wurden, und solange alles Denken von Gewalt geprägt war, konnte kein Frieden entstehen.
Für Liz hatten diese Theorien fast den Charakter einer Religion angenommen. Ihr Entschluss stand fest. Sie legte die Pistole in ihr Versteck zurück, steckte das Handy in die Umhängetasche und verließ das Zimmer. Sie musste eine Möglichkeit finden, das Hotel unbemerkt zu verlassen und die Frau weiter zu beobachten. Sie sah auf die Uhr. Nur noch zwanzig Minuten, und sie hatte keine Verkleidung.
Sie fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage hinunter. Als die Tür aufging, schlug ihr ein salziger Hauch von Meer entgegen. Vor einem Lastenaufzug stand ein Lieferwagen, aus dem ein Mann frischen Fisch in einen eisgefüllten Kasten lud, den er zum Lift trug, um ihn nach oben in die Hotelküche zu bringen.
Ihr fiel ein, was ihr Vater einmal gesagt hatte: Mach dir zunutze, was dir zur Verfügung steht. Nur Dummköpfe werfen die Flinte ins Korn. Genies stehlen. Als die Lifttür zuging, wandte sie sich dem Lieferwagen zu. Ihr kam eine Idee. Ob ihn der Fahrer abgeschlossen hatte? Vermutlich nicht. Zum einen stand er in einer Tiefgarage, zum anderen würde der Fahrer in Kürze wieder zurückkommen. Sie blickte sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie ging auf den Lieferwagen zu, zog die Schiebetür auf und spähte in das frostige Innere.
Mit einem finsteren Grinsen steckte sie das Handy in einen der Container, die darin gestapelt waren. Die Fische fühlten sich klamm und rau wie Sandpapier an auf ihrer Haut. Sollten diese Schweine ruhig versuchen, sie zu orten. Sie nahm einen Lumpen von einem Haken, säuberte sich die Hände und schloss die Tür. Bis der Fahrer wieder zurückkam, stand sie gegen die Motorhaube gelehnt und hielt sich das Fußgelenk.
»Oh pardon!« Sie richtete sich auf und humpelte betont unbeholfen davon.
Der Fahrer war ein kleiner rundlicher Mann mit einem freundlichen wettergegerbten Gesicht. Seine weiße Schürze war mit roten Flecken übersät. »Was ist passiert, Mademoiselle?«, fragte er auf Französisch. »Haben Sie sich den Fuß verknackst?«
»Es ist nicht so schlimm. Na ja, oder vielleicht doch. Mein Freund, wissen Sie. Wir haben uns gestritten … und … und …« Sie hob hilflos die Schultern und gestikulierte. »Er hat mich einfach hier stehen gelassen. Als ich ihm hinterhergerannt bin, bin ich mit dem Fuß umgeknickt. Aber es geht bestimmt gleich wieder. Ich wollte mich nur ein bisschen ausruhen. Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, ich komme schon klar.«
Der Mann nickte verständnisvoll. »Ach ja, die Liebe. Man kann nie sagen, wen es trifft. Selbst in meinem Alter nicht … Aber das braucht Sie ja nicht zu interessieren. Schade, dass ich nichts für Sie tun kann.« Er zuckte mit den Achseln. »Die Liebe!«
» Etwas wäre da vielleicht doch – natürlich nur, wenn es Ihnen nicht zu viel Umstände macht. Mein Onkel hat ganz in der Nähe ein Schuhgeschäft. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich dort hinzufahren? Sie haben sicher viel zu tun und wenig Zeit, aber vielleicht ist es ja kein allzu großer Umweg.« Sie machte wieder ein paar humpelnde Schritte, fand das Gleichgewicht, lächelte bezaubernd.
»Ganz in der Nähe, sagen Sie? Aber natürlich, überhaupt kein Problem. Nichts lieber als das.«
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen. Wirklich. Vielen, vielen Dank.«
Als er den Motor startete, kam ein Chanson von Edith Piaf aus den Lautsprechern, eine lebenserfahrene, aber traurige Melodie über l’amour. Sie fuhren die Rampe zum Tor der Tiefgarage hinauf. Dort war die Gefahr, entdeckt zu werden, am größten. Deshalb bückte sich Liz unter lautem Seufzen und Stöhnen, um sich das Fußgelenk zu massieren.
»Tut es sehr weh, Mademoiselle?«, fragte der Fahrer besorgt.
»Nein, nein, nur ein leichtes Stechen.« Sie massierte eifrig weiter und blieb auf diese Weise vor neugierigen Blicken verborgen.
Als der Fahrer das Lenkrad nach rechts zu drehen begann, zählte sie bis zehn. Als sie sich danach aufsetzte, hatten sie das Hotel bereits ein gutes Stück hinter sich gelassen. Zwei Straßen weiter bat sie ihn anzuhalten und stieg vor einem Schuhgeschäft aus, in dem sie während ihres letzten Parisaufenthalts eingekauft hatte.
Sie hinkte in den Laden. Als der Lieferwagen verschwand, ging
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