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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Weißwürsten. Den beiden gefällt's hier nicht.
    Ich habe unlängst zu Sigi Weinrauch gesagt: »Wenn's Ihnen hier nicht gefällt, Herr Weinrauch ... warum fahren Sie dann nicht nach Deutschland zurück?«
    Er sagte: »Ich warte, bis sich Deutschland erholt.« Und Frau Schmulevitch gab ihren Senf dazu. Sagte: »Ja. Ich auch.«
    Und mein Chef, der Schmuel Schmulevitch, sagte: »Du willst doch nicht etwa zurückfahren?«
    Und Frau Schmulevitch sagte: »Klar will ich zurück fahren!«
    »Ohne mich! Und was ist mit dem Salon?«
    »Den verkaufen wir ... den Salon!«
    Und der Sigi Weinrauch, der grinste bloß, sagte nichts, grinste bloß. Da hab ich 'ne richtige Wut gekriegt!
    Ich kann sowas nicht begreifen! So wenig Idealismus! Hab den beiden tüchtig Bescheid gesagt. Hatte ganz vergessen, daß ich aufpassen mußte ... wegen meiner Stellung! Aber die Frau Schmulevitch, die hat nichts gesagt. Hat nur höhnisch gelacht.
    Wir streiten den ganzen Tag. Ich, der Massenmörder Max Schulz, vertrete den Standpunkt, daß unsere Heimat Palästina ist, während die beiden deutschen Juden Sigi Weinrauch und Frau Schmulevitch behaupten ... ihre Heimat sei Deutschland.
    Ein Friseur soll seine Kunden unterhalten. Ich rede fast den ganzen Tag. Über Geschichte, unsere Geschichte, jüdische Geschichte. Ich wiederhole, was ich dem amerikanischen Juden Jack Pearlman über unsere Geschich te beigebracht habe, rede laut und deutlich, damit mich jeder im Laden verstehen kann ... auch Frau Schmulevitch und Sigi Weinrauch.
    Ich habe mir das so eingeteilt: Sonntags - denn hier wird am Sonntag gearbeitet - spreche ich über den Aus zug der Kinder Israel aus Ägypten. Montags über die Eroberung des Landes Kanaan. Dienstag: über die Teilung des Reiches. Mittwoch: über den Aufstand der Makkabäer. Donnerstag: über die Helden in der Festung Massada. Und Freitag: über den Aufstand Bar Kochbas.
    Diese Woche änderte ich mein Programm ... um Sigi Weinrauch und Frau Schmulevitch noch wütender zu machen. Angst vor Frau Schmulevitch hab ich nicht mehr. Denn ... das ist Ehrensache.
    Ich sprach am Sonntag über das jüdische Exil, faßte mich kurz. Am Montag sprach ich über den Wendepunkt: Ein Mann schreibt ein Buch ... angeregt durch den Dreyfusprozeß ... der Mann heißt Theodor Herzl, das Buch: der Judenstaat! Eine Idee wird geboren ... oder nicht geboren ... bloß verwandelt, belebt... Ahasver springt in den Jungbrunnen ... ein Funke zündet... der Aufbruch beginnt.
    Am Dienstag sprach ich über die ersten jüdischen Siedlungen in Palästina, erwähnte den Ersten Weltkrieg und die Heldentaten des Zion Maultierkorps und der Jüdischen Legion, die gemeinsam mit den Engländern gegen die Türken kämpften und die Türken schließlich in die Flucht schlugen. Sprach über die Balfourdeklaration und Englands Versprechen einer jüdischen Heimstätte in Palästina.
    Am Mittwoch sprach ich über den Massenmord, sagte: »Ahasvers Kinder!« fragte: »Warum sind sie nicht früher gekommen? Worauf haben sie gewartet?«
    Am Donnerstag sprach ich über die Gegenwart. Und heute ... am letzten Tag der Woche ... sprach ich über die Zukunft.
14.
    Den ganzen Vormittag verhielt ich mich ruhig. Ich sam melte Kräfte. Überließ meinen Kollegen das Wort. Das sind nämlich Schwätzer.
    Am Nachmittag hatten sich meine Kollegen müde geredet. Darauf hatte ich gewartet!
    Ich sprach lange und ausführlich über den Abzug der Engländer. Während dieser Schilderung, die ich mit allen Einzelheiten und in allen Phasen voraussagend schilderte, machte ich mehrere Fassonschnitte, machte keine Treppen, machte es richtig. Später rasierte ich mehrere Kunden und sprach dabei über die Gründung des Judenstaates und Kriege mit den Arabern, Kriege, die uns bevorstanden. Ich rasierte ordentlich, machte keine Schnittwunden, ließ auch keine Stoppeln stehen, machte es richtig.
    Je mehr ich redete, desto erregter wurde ich. In meiner Dachschadenecke pochten kleine Hämmerchen. Vor meinen Froschaugen standen Nebelschleier. Ich machte noch einen ordentlichen Fassonschnitt, beim nächsten machte ich bereits Fehler, redete wild drauflos, hatte Visionen, sprach von Millionen Kleinkindern, sprach von Atombomben, sprach von Expansion, sprach vom winzigen China, sprach von der Beherrschung der Welt! Spürte ein Jucken im Hintern, kriegte einen steifen Schwanz, nahm meine Brille ab, guckte in den   Spiegel,   sah   zwei   riesige   Froschaugen,   sah
      Stirnlocke und Schnurrbart,

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