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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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ich ... »den Fall Max Schulz. Können Sie sich wirklich nicht erinnern? Sie versprachen mir sogar, den Fall eines Tages aufzuklären!«
    »Kann mich nicht erinnern«, sagte der Richter. »Es ist zu lange her.«
    »Doch. Ganz bestimmt. Wir hatten damals sogar gewettet. Um eine Flasche Champagner!«
    »Kann mich nicht erinnern«, sagte der Richter. »Es ist zu lange her.«
    Der alte Mann log nicht. Es war zu lange her. Er hatte sich nur an den Namen erinnert ... den Namen Max Schulz ... und auch daran, daß ich ein Sammler war, ein Sammler von Berichten über den Massenmord. Sonst nichts. Ich hatte sein Gedächtnis wieder aufgefrischt.
    Dieses Gespräch fing an, mir Spaß zu machen. Ich war tete noch mit der Erzählung meines Geheimnisses, erzählte ihm vorläufig nur von der Kindheit des Max Schulz, so wie diese Kindheit mit den Augen seines Gespielen Itzig Finkelstein gesehen worden war. Nach dem ich alles über die Kindheit des Max Schulz berich tet hatte, sagte ich: »Herr Amtsgerichtsrat. Ich hatte Ihnen vor vielen Jahren erzählt, daß Max Schulz meine Eltern erschossen hat. Das heißt: ich hatte das angedeu tet. Auf dem Schiff. Gesprächsweise. Erinnern Sie sich?«
    »Nein«, sagte der Richter.
    »Die waren nämlich auch in Laubwalde.«
    »So ...«, sagte der Richter. »Und sind Sie noch immer überzeugt, daß Max Schulz Ihre Eltern erschossen hat?«
    »Immer noch«, sagte ich. »Nach wie vor!«
    »Das können Sie aber nicht wissen«, sagte der Rich ter. »Sie waren ja nicht dort!«
    Ich sagte: »Ich nehme es an.«
    »Max Schulz war nicht der einzige SS-Mann in Laub walde!«
    »Das stimmt«, sagte ich. »Trotzdem nehme ich das an.«
    - Und dann erzählte ich ihm mein Geheimnis. »Sehen Sie«, sagte ich zu dem Richter. »Ich stelle mir folgende Szene vor: Ein Judentransport kommt in Laubwalde an. Die Juden werden mit Peitschen und kläffenden Hunden aus den Waggons getrieben. Unter den Juden sind meine Eltern. Und unter den SS-Leuten ist Max Schulz. Und meine Eltern sehen Max Schulz! Und Max Schulz sieht meine Eltern!
    Meine Eltern wissen, was ihnen blüht. Vorher wußten sie's nicht. Wenigstens nicht genau. Aber jetzt ... hinter dem Stacheldraht ... gehen ihnen die Augen auf. Sie sehen die Hunde. Und die SS. Und die langen, offe nen Gräben. Und die Erschossenen in den Gräben. Sie spüren den Geruch. Sie wissen alles.
    Mein Vater entdeckt Max Schulz zuerst. Sieht ihn dort stehen ... zwischen den anderen SS-Leuten. Rennt auf ihn zu. Fällt vor ihm auf die Knie. Bettelt. Nein. Nicht um sein eigenes Leben. Bettelt um das Leben meiner Mutter.
    Meine Mutter sieht meinen Vater. Und sieht Max Schulz. Und rennt dorthin. Zu den beiden. Und fällt auf die Knie. Und bettelt. Nein. Nicht um ihr Leben. Bloß um das Leben meines Vaters.
    Mein Vater weint. Ruft: ›Max Schulz! Du warst doch mein Lehrling. Wir waren doch gut zu dir.‹ Und meine Mutter ruft: ›Was haben wir dir getan?‹
    Die SS-Leute lachen. Sehen Max Schulz an. Max Schulz wittert die Frage: Hast du die Juden gekannt? Waren sie etwa deine Freunde?
    Max Schulz will sich reinwaschen. Er kann nicht ver leugnen, daß er die Juden gekannt hatte, denn sie kannten ja seinen Namen. Aber sie waren nicht seine Freunde. Das durfte er nie zugeben. Sie waren bloß Juden. Nichts mehr. Und sie waren ihm gleichgültig.
    Max Schulz richtet den Lauf seines Gewehrs gegen die Köpfe der Knienden. Max Schulz erschießt sie.«
    »Möglich ist das schon«, sagte der Richter. »Ihr Bericht hat mich fast überzeugt.«
    Wir schwiegen eine Zeitlang. Ich bot dem Richter ein paar von Miras selbstgebackenen Fladen an. Er lehnte aber ab.
    »Er hätte auch Itzig Finkelstein erschossen«, sagte ich zu dem Richter.
    »Vielleicht«, sagte der Richter. »Aber das konnte Max Schulz nicht, da Itzig Finkelstein ja nicht dort war. Schließlich sind Sie ja hier!«
    Ich sagte: »Bin ich auch. Aber es hätte ja sein können.«
    Der Richter lächelte. Ich sagte: »Stellen Sie sich vor ... Itzig Finkelstein ... wäre mit einem zweiten Transport in Laubwalde eingetroffen ...«
    »Dann wäre mit ihm dasselbe passiert?«
    Ich wehrte ab, sagte: »Nein. Sie irren sich. Itzig Fin kelstein wäre nie auf die Knie gegangen.«
    »Dann also nicht?«
    Ich sagte: »Nicht so!«
    Der Richter fragte: »Wie denn?«
    »Ungefähr so«, sagte ich. »Sehen Sie ...
    Es ist bekannt, daß Laubwalde kein Arbeitslager, sondern ein Todeslager war. Aber schließlich wurden auch in einem Todeslager Arbeiter gebraucht! Sie

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