Der Nazi & der Friseur
weiterexistieren, sozusagen: ließen die Kleinen unter ihnen noch ein Weilchen Luft schnap pen.
Warum? Wollen Sie wissen, warum? - Woher soll ich das wissen. Ich war doch selber nur ein kleiner Fisch! -Vielleicht weil unser Obergruppenführer Helmut von Schaumbeck gesagt hatte: »Immer mit der Ruhe! Undwegen der Auslandspresse! Und wegen des richtigen Zeitpunkts!« - ich weiß es wirklich nicht.
Oft lag ich nachts wach in meinem Bett, starrte in die Dunkelheit, starrte in Richtung Kellerfenster - sah Zeitungsausschnitte, sah Schlagzeilen, phosphorleuchtend im Blickfeld meiner Einbildung:
»DER JÜDISCHE FRI SEUR - EINE NATIONALE GEFAHR! VOLKSFEIND NUMMER EINS! SEIN GESCHÄFT: ABSICHTLICH ECKE GOETHE- UND SCHILLERSTRASSE. DIE ECKE! DORT WO ZWEI DEUTSCHE DICHTER SICH DIE HÄNDE REICHEN WOLLEN! DORT HOCKT ER DAZWISCHEN! DER JUDE! MIT ABSICHT! ALS TRENNUNGSSTRICH! UM ZWIESPALT ZU SÄEN! DAMIT DIE HÄNDE NICHT ZUSAMMENKOMMEN! KULTURZERSETZEND! GEFÄHRLICH! WEHRT EUCH, VOLKSGENOSSEN! WEHRT EUCH GEGEN DEN JÜDISCHEN FRISEUR! DEUTSCHE MÄNNER UND FRAUEN: WENN EUCH GOETHE UND SCHILLER EIN BEGRIFF SIND ... UND IHRE SUCHENDEN HÄNDE ... DANN ENTFERNT DEN JÜDISCHEN FRI SEUR AN DER ECKE!«
Und andere:
»PARTEIGENOSSEN! DER RICHTIGE ZEITPUNKT! ES IST SOWEIT! ALLE JÜDISCHEN GESCHÄFTE OHNE AUSNAHME BESCHLAG NAHMT! DIE NEUEN ARISCHEN INHABER WER DEN VON DER PARTEI FINANZIERT!«
Oft stand ich tagsüber im weißen Friseurkittel neben Slavitzki und blickte durch's Schaufenster hinüber zur Konkurrenz, sah ein verschwommenes Schild und darauf stand: Neuer Inhaber ... Max Schulz ... arisches Geschäft... Stammbaum vorhanden...
11.
Viel gibt es nicht mehr zu erzählen. Im Jahre 1937 starb unser Hausmeister. Das war ein schwerer Schlag für meine Mutter. Aber dann kam ein neuer ... ein neuer Hausmeister.
So war das. Interessiert Sie das? Schmeißen wir den Kalender weg - den von 1937? Hängen einen neuen auf? Den von 1938? Warum? Und wo? Und wann? Das ist doch scheißegal! Und warum nicht! Und irgendwo! Und irgendwann! Meinetwegen am Kellerfenster! Und meinetwegen im Herbst. Warum im Herbst? Warum nicht?
Im November 1938 ... da war ein Pogrom ... das nannten wir die Kristallnacht. Da schlugen wir los. Aber auch noch nicht richtig. Da brannten die Synagogen der Juden im ganzen Land. Die Geschäfte wurden geplündert. Und viel Glas lag auf den Straßen ... Scher ben. Sehr viel Glas. Sehr viele Scherben. Auch bei uns in Wieshalle.
Die Synagoge in der Schillerstraße brannte die ganze Nacht. Einige der benachbarten Häuser fingen Feuer. Daran war allerdings der Novemberwind schuld. Ja, der verdammte Wind. Auch Finkelsteins Friseurladen brannte ab. So war das, der brannte ab. Die symbolische deutsche Kulturecke ... Ecke Schiller- und Goethestraße ... existierte nicht mehr. Dort gähnte ein riesiges Loch. Ein Kulturloch. Ob es inzwischen zugewachsenist, das Loch? Ich weiß es nicht, denn ich blieb nicht mehr lange in Wieshalle.
Aber ich halte Sie unnötig auf. Stimmt's? Sie wollen doch wissen, wann ich zum Massenmörder wurde?
Also: Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, werde versuchen, mich so kurz wie möglich zu fassen. Sie haben keine Geduld mehr. Und ich auch nicht.
Und das war so: Ich arbeitete weiter bei Slavitzki. Es ging mir nicht schlecht... gar nicht schlecht. Aber dann - dann kam der verdammte Krieg! Ja, der verdammte Krieg!
Haben Sie mal was vom Polenfeldzug gehört? Das war ein kurzer Spaziergang. Dort war nicht viel los im Jahr 1939.
Ob ich den mitgemacht hab? Nein. Den hab ich leider verpaßt. Ich wurde von der SS nur kurzfristig für den Einsatz im Hinterland ausgebildet ... kurzfristig, hab ich gesagt ... nach preußischem Krümpersystem ... Sie wissen schon ... aber nicht kurzfristig genug ... denn als ich mit meiner Einheit in Polen eintraf ... im Winter war das ... im Winter 1939 ... im polnischen Winter ... und das ist ein verdammt kalter Winter ... ja ... da war der Krieg in Polen längst vorbei.
Was ich gemacht habe ... in Polen ... im Winter? Wollen Sie das wissen? Gelangweilt hab ich mich. Dort war ja nichts los! Wenigstens nicht in unserem Abschnitt. Wir hatten ein paar Dörfer zu bewachen ... und ein paar Friedhöfe ... und auch Waldgebiet ... ja, das auch ... und eine Landstraße ... in der Nähe der neuen russischen Grenze oder nicht weit von dort. Nichts war dort los. Partisanen hab ich nicht gesehen. Wenigstens nicht in unserem Abschnitt. Und die polnische Führerschicht war ja längst
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