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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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heißt: bis zu jenem denkwürdigen Tag, als der Krieg für mich, Max Schulz, später Itzig Finkelstein, endgültig vorbei war.

Zweites Buch
1.
    Frau Holle hatte zwei Beine: ein arisches und ein nicht arisches. Das nichtarische war aus Holz, wurde tagsüber angeschnallt und spät am Abend, vor dem Zubettgehen, abgeschnallt.
    Frau Holle hatte die schlechte Angewohnheit, im Bett zu lesen, und zwar bei einer Kerze, weil es ja in der aus gebombten Nietzschestraße noch kein elektrisches Licht gab. Wenn Frau Holle in ihre Lektüre vertieft war, dachte sie nicht an das abgeschnallte Holzbein, das an der langen Wand der Kellerwohnung hing ... am Fußen de des Bettes an einem rostigen, leicht verbogenen Nagel ... zuweilen jedoch, wenn das Licht der Kerze flackerte, blickte sie auf, unabsichtlich eigentlich, sah das Holz bein, sah auch den dunklen Schatten an der Wand, sah, daß der Schatten sich bewegte, hatte Angst, wollte aus dem einsamen Bett herausspringen, überlegte sich's aber anders und zog nur ängstlich das eine Bein ein, das ari sche. Der Schatten des Holzbeins war ein seltsamer Schatten. Denn er hatte nicht nur einen Körper. Er hatte auch ein Gesicht. Daß sich ein Schatten im Widerschein der flackernden Kerze bewegen konnte, das verstand Frau Holle. Sie hatte auch Verständnis dafür, daß der Schatten tänzeln konnte, zuweilen sogar seltsame Sprünge machte ... an der langen Wand ... als wollte er sich jeden Moment auf das einsame Bett stürzen und auf die einsame ängstliche Frau, die sie selbst war, eine ari sche Frau, tagsüber mit zwei Beinen, nachts nur mit einem, einem arischen, daß sich vor Schreck zusammen krümmte - aber daß der Schatten auch grinsen konnte, und zwar immer anders - das verstand Frau Holle nicht.
    Im Jahre 1942, als die deutschen Truppen die Wolga erreichten, da hatte der Schatten des Holzbeins, der ja nicht arisch war ... so wie das Holzbein ... ganz komisch gegrinst: ein verzweifeltes Grinsen war das gewesen, so wie jemand grinst, der gerne heulen möch te und nicht kann. Aber dann, nach dem Fall von Sta lingrad: da war's ein hoffnungsvolles Grinsen. Und später, viel später eigentlich, als die Russen schon fast vor Berlin standen, da hatte der Schatten tückisch gegrinst, tückisch jawohl, so wie ein Russe grinst oder ein Jude beim Anblick einer schutzlosen deutschen Frau oder vieler schutzloser deutscher Frauen. Seit dem Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches aber grinste der Schatten quietschvergnügt und schien stumm zu lachen.
    Nachts hatte Frau Holle Angst. Frühmorgens jedoch, wenn es hell wurde und der Spuk verflogen war, da war auch die Angst wie weggewischt und ihre aufge speicherte Wut entlud sich mit aller Macht. Erst dann wagte Frau Holle das Holzbein zu beschimpfen. Und Frau Holle schimpfte! Und wie sie schimpfte! »Du dreckiger Iwan«, schimpfte Frau Holle und wurde dabei ganz munter, »du dreckiger, gottverfluchter Iwan, Frauenschänder, Lump, Saujud, Itzig, Führermörder, Halunke, Schlitzauge, Sibirien!«
    Auch heute morgen beschimpfte Frau Holle das Holzbein, beruhigte sich nach einer Weile, schluckte, spie aus, rieb sich das linke Ohr, dann das rechte, kratz te sich am Hintern ... mit der linken Hand, dann mit der rechten ... kroch aus dem einsamen Bett, hakte das Holzbein los, schnallte es um, rieb sich die Augen,gähnte, dachte daran, daß das arische Bein ohne das nichtarische umknicken würde ... einfach so! ... dachte: das ist eine Schande ... dachte: du hast heute ein bißchen länger geschlafen ... das muß einen Grund haben? Heute ist der 5. August 1945! Heute ist dein Geburtstag! Verdammt noch mal! Den müßte man eigentlich feiern! Aber womit? Und mit wem?
    Frau Holle trällerte vor sich hin, denn sie war in Geburtstagsstimmung. Sie zog sich umständlich an, band auch das schwarze Kopftuch um, obwohl das, jetzt im Sommer, gar nicht nötig war, aber Frau Holle sagte sich: weil dein Haar so grau und filzig ist! Ehe sie fortging, warf sie noch einen langen Blick in den halbblinden Spiegel, der an der kurzen Wand neben dem alten, zerkratzten Kleiderschrank hing, ärgerte sich und fing wieder zu fluchen an: »Du siehst wie ein altes Bauernweib aus: eines mit einem Holzbein. Aber wo ist die Fettschicht? Und dein Gesicht ... breitknochig ... wie ein Dreieck unter dem schwarzen Kopftuch ... und deine großen, gelben, abstehenden Zähne ... die sind noch gelber geworden ... aber nicht kürzer!«
    Frau Holle schloß die knarrende Tür der Kellerwohnung

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