Der Nazi & der Friseur
Die Sonne guckte neugierig in die hohläugigen Fenster, schien das Trümmerfeld zu belichten, als wollte der liebe Gott eine Aufnahme machen, grinste die Menschen an, die in ihren abgerissenen Kleidern irgendwohin gingen oder humpelten, lachte höhnisch über das Holzbein von Frau Holle.
Frau Holle kümmerte sich nicht um die Sonne. Sie überquerte den Adolf-Hitler-Platz, den die Sommervögel bekleckst hatten, fragte sich - wie der wohl jetzt heißen mochte? - sah kein Schild, verfluchte im Innern die Sommervögel, dachte an den toten Führer, schluckte Tränen herunter, dachte an den Ehering, den sie verkaufen wollte, an Brot und Eier, Milch und Zigaretten. Sie dachte auch an das Gespräch mit dem Jungen: »Sie sind zu alt für mich« - und dann: »59!« - So ein Lausejunge! - Und wer war der Mann, der sie suchte? Einer mit Froschaugen?
In der Mozartstraße bemerkte sie Gruppen von Ar beitern, die den Schutt wegräumten und saure Gesichter machten - kein Wunder! Als ob das noch einen Sinn hatte, den Schutt wegzuräumen, wo doch sowieso alles im Eimer war. Die Mozartstraße war nicht so zerstört wie die Nietzschestraße, war auch schon befahrbar für die Fahrzeuge der Besatzungsmacht - und Frau Holle, die sich gar nicht um die Sonne kümmerte, fragte sich jetzt: Ja, mein Gott - warum gerade die Straße vom Nietzsche? War der nicht auch bloß ein Musikant? Frau Holle begegnete ab und zu amerikanischen Soldaten und Offizieren, die Kaugummi kauten, anderen, die keinen kauten, manche zu Fuß, manche in Jeeps. Aber auch um die kümmerte sich Frau Holle nicht.
Es war ein weiter Weg von der Nietzschestraße bis zum Schwarzmarkt am anderen Ende von Warthenau. Und durch die zerschossenen, ausgebombten Straßen zu humpeln, mit leerem Magen und einem Holzbein fragwürdiger Herkunft ... das war für eine 59jährige Frau, die erst 49 war, bestimmt kein Vergnügen.
Frau Holle war von den Russen vergewaltigt worden. Das war in Berlin gewesen in den ersten Maitagen des Jahres 1945.
Genau 59 mal, dachte Frau Holle jetzt wütend und versuchte schneller zu humpeln, obwohl sie genau wußte, daß die Russen nicht in Warthenau waren, son dern die Amerikaner. - 59 mal! Kein Wunder, daß man wie 59 aussah! Und die Schweine hatten sich nicht mal um das Holzbein gekümmert.
Ende Mai war Frau Holle dann nach Warthenau gezogen. Denn Frau Holle stammte aus Warthenau. Und Frau Holle hatte ein Haus in Warthenau. In der Nietzschestraße Nummer 59. Das war allerdings eine Unglückszahl. Aber die war nicht zu ändern. Das durfte sie doch nicht? Das konnten nur die Behörden tun? Und ausziehen? Das wollte sie auch nicht. Es war schließlich ihr Haus. Und das Haus von Günter.
Und Günter war ihr Mann. Und wenn er aus dem Krieg zurückkam - dann würde er die Leute fragen: Ich suche das Haus Nummer 59? Und eine Frau mit einem Holzbein?
Das mit den Russen darf Günter nie erfahren, dachte Frau Holle und begann wieder langsamer zu humpeln, denn mit einem leeren Magen schnell zu humpeln, das war kein Kinderspiel.
Bleib nicht in Berlin! Das hatte ihr Mann, SS-Rotten führer Günter Holle aus Polen geschrieben - als Polen noch deutsch war. Und sie hatte ihm geantwortet: »Unser Haus ist eingestürzt. Der 5. Stock ist im Eimer. Auch der 4. Stock. Und der 3. Stock. Und der 2. Stock. Und der 1. Stock. Nur das Erdgeschoß, das ist noch da ... aber ohne Zimmerdecke. Und der Keller ist noch da - ja, der auch. Sogar mit einer Zimmerdecke, obwohl dort ein Loch ist... ein ziemlich großes Loch. Aber lieber Günter - soll unsereins vielleicht in einem Keller wohnen? Na also! Nein, Günter. Das kommt nicht in Frage. Ich bleibe bei deinen Eltern in Berlin. Die Wohnung in Berlin ist noch nicht ausgebombt.«
Und dann waren die Russen gekommen. Und die hatten sie 59 mal vergewaltigt. Und die hatten sich nicht um das Holzbein gekümmert. Und es war bestimmt keine Kleinigkeit gewesen, aus der Hauptstadt herauszukommen und sich nach Warthenau durchzuschlagen, mit einem arischen und einem nichtarischen Bein, unge brochen, obwohl humpelnd, mit Schmerzen im Gesäß und den Geschlechtsteilen und zerbissenen Brüsten und abgebrochenen Fingernägeln - obwohl das eigentlich zu spät war, die Reise nach Warthenau - aber besser zu spät als gar nicht. - Und Günter darf das nicht wissen - das mit den Russen. Und wenn Günter aus dem Krieg zurückkommt - und warum sollte er nicht zurückkommen? - andere kamen doch auch zurück? - ja, dann würde sie zu ihm sagen: »Günter!
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